Ein einig Volk von Verbrechern?

Wenn dieser Tagen jemand ausrufen würde, dass es reicht, dass wir doch nicht alle Indianer, Steuerhinterzieher oder sonstige Verbrecher sind, dann wäre dieser Person mindestens zustimmendes Kopfnicken gewiss.

Genau darin übt sich nun «jemand» – auf eher fragwürdige Weise und mit zweifelhafter Motivation.

 

 
Ein einig Volk von Verbrechern?

Provokative Plakatwerbung: Sind die Schweizerinnen und Schweizer alles Verbrecherinnen und Verbrecher?

 

Das Plakat – im Mittelland selten anzutreffen – mit der rhetorischen Fragen, ob wir denn alle Verbrecher sind, sticht ins Auge. Es gibt also doch noch jemand, der aufzumucken wagt und dazu aufruft, die Zügel (bitte ohne Peitsche) wieder selber in die Hand zu nehmen. Unweigerlich drängt sich aber die Frage auf, was und wer denn dahinter steckt.

Wer steckt dahinter?

Nein, es ist nicht die SVP, welche in der heimeligen Beiz aus der Fondue essenden, typisch schweizerischen zwei-Kind-Familie Terroristen macht, obschon es durchaus zu ihr passen würde (der Begriff «Terroristen» wird von den Initianten verwendet). Eine Bildsprache, die im Ausland für Kopfschütteln sorgen könnte – in diesem Fall in vom Terror bedrohten Ländern – was für diese Partei ja nichts Neues wäre…

Dieser Aufmuckende ist…nun…das ist eigentlich schwierig zu beantworten. Gemäss Branchen-Portal persoenlich.com hat Remy Fabrikant, CEO der Werbeagentur JWT+H+F, die fragliche Website aus dem eigenen Sack bezahlt. Er wird für seine Initiative auch als «helvetischer Patriot» bezeichnet. Und doch steht im Impressum der besagten Website nicht etwa sein Name mit Privatadresse, sondern jene seiner Agentur. Er trägt nur die Gesamtverantwortung.

Auf der Firmenwebsite ist über diese Kampagne denn auch zu lesen:
«Die Website www.sind-wir-schweizer-alle-verbrecher.ch, von uns initiiert…». Also doch keinen One-Man-Show.

Warum aber nur ist dann zu lesen:

«Es ist an der Zeit, dass wir Bürgerinnen und Bürger endlich zu Wort kommen»?

Das steht so auf der Homepage. Wir Bürgerinnen und Bürger. Nicht DIE Bürgerinnen und Bürger sollen zu Wort kommen, sondern WIR.

Selbstverständlich ist auch Remy Fabrikant ein Bürger. Nur wirkt es unglaubwürdig, wenn die Wir-Bürgerinnen-und-Bürger-Form verwendet wird, im Impressum aber eine Werbeagentur steht…

Ausgerechnet eine Werbeagentur. Diese wirken nämlich für Aussenstehende im Allgemeinen sehr personenbezogen und «Award-geil», gesamthaft also eher egozentrisch und gar nicht selbstlos und altruistisch, wie es eine solche Plattform doch eigentlich verlangt. Steckt dahinter also doch nur ein neuartiges PR-Experiment und nicht mehr?

Kopierte Kreativität?

Apropos neuartig: Gemäss persoenlich.com-Artikel ist die Idee der maskierten Familienmitglieder nicht neu, sondern wurde bereits schon bei einem Cover von «Das Magazin» angewandt.

Auffällig ist auch die Parallele zum Diskussionsforum «wahlbistro.ch»: Eine privatwirtschaftliche Unternehmung (nanu?) lanciert eine «parteiunabhängige Plattform».

Verglichen werden können beide dennoch nicht. Zum einen spielt Mark Balsiger von Border Crossing nicht den heldenhaften Patrioten und spricht nicht von «Wir-Bürger-müssen-uns-endlich-wehren», sondern lässt das Ganze unzweifelhaft unter seiner PR-Agentur laufen. Zum anderen war im Wahlbistro bisher eine Anmeldung erforderlich, was für Fabrikants Plattform nicht gilt.

Die wahre Motivation

Die wahre Motivation für den Betrieb einer solchen Plattform wird natürlich nicht preisgegeben. Wäre diese aber so altruistisch und uneigennützig wie das geglaubt werden soll, dann fänden sich darauf keine Firmennamen. Vielmehr fände man auf jeder Seite wenigstens in der Fusszeile die Betonung, dass diese Plattform vom «Bürgerkomitee XYZ» betrieben wird, dessen Mitglieder wiederum irgendwo einzeln nachzulesen wären.

Dampf ablassen

Die Idee ist ja durchaus lobenswert. Doch die Website erlaubt nur, seine Meinung abzuladen, nicht aber sich seine Meinung zu bilden. Es stehen da null Informationen zu den zahlreich gestellten Fragen. Ist es nicht etwas gar einfach, unmittelbar vor den Fragestellungen auf der Homepage zu schreiben «Informieren Sie sich, stimmen Sie ab und diskutieren Sie mit»?

Selbst die Fragestellungen der Online-Umfagen sind teilweise in Frage zu stellen: «Ist es richtig, dass…». Ob etwas richtig oder falsch ist, entscheidet in unserem Rechtsstaat der Richter oder die Richterin. Die Frage müsste daher anders formuliert werden.

Fragwürdige Online-Umfragen

Online durchgeführte Umfragen sind ohnehin wenig sinnvoll. Sie suggerieren eine «Volksmeinung», deren Korrektheit häufig auch noch mit einer hohen Teilnehmerzahl gerechtfertigt wird. Dass dabei zum Beispiel die Meinung der weniger Internet-kundigen Generation gar nicht berücksichtigt wird, dürfte allen einleuchten – oder beinahe allen. Solche Umfragen sind daher nie repräsentiv und verdienten eine entsprechende Randbemerkung oder Fussnote, welche man allerdings nicht findet.

 
HP_sind-wir-schweizer-alle-verbrecher-ch

Ausschnitt der Homepage von www.sind-wir-schweizer-alle-verbrecher.ch.

 

«Web 2.0-damaged»?

Sowas könnte man schon beinahe «Web 2.0-damaged» nennen: Man rühmt sich, die ersten in der Schweizer Agenturszene mit einer «Konversations-Website» zu sein, erwähnt aber im Impressum keine E-Mail-Adresse und bietet auch kein Kontaktformular an. Immerhin erinnert man sich noch an die gute alte Postadresse. Wer’s vergessen hat: A-Post kostet mindestens einen Franken, B-Post lediglich fünfundachtzig Rappen…

Fazit

«Arena» im Web 2.0 spielen zu wollen ist ein heikles Unterfangen. Die Mehrheit der einfachen Bürgerinnen und Bürgerin haben gewiss eine Meinung, sind sich aber politische Diskussionen nicht gewohnt. Diese Meinung schriftlich abzufassen, noch dazu in der «Fremdsprache Hochdeutsch», braucht viel Zeit, die «wir Bürgerinnen und Bürger» lieber in Dinge investieren, die mehr «Fun» mit sich bringen.

Wer dies trotzdem tun mag, der findet heute schon zahlreiche Blogs, in welchen man seine Meinung deponieren kann. Ohne einen Kontext – oder wenigstens eine Kontext-gebende Moderation – macht das reine Meinungsabladen wenig Sinn.

«www.sind-wir-schweizer-alle-verbrecher.ch» ist nicht nur eine zu lange Domain, die sich kaum jemand merken kann, sondern ist schon in wenigen Monaten, wenn wir von der deutschen Kavallerie wieder Zuckerbrot bekommen, nicht mehr aktuell.

Eine Grundwerte-Diskussion hierzulande ist wichtig und dringend notwendig. Sie muss jedoch aus der «zur Einsicht gekommenen Politik» initiiert und an eine wirklich interessenlose und unabhängig handelnde Körperschaft übertragen werden. Nur so besteht die Chance für deren Erfolg und nur so ist die Diskussion auch glaubwürdig.

Die fragliche Plattform animiert, sich eher in Selbstmitleid zu suhlen als dass vorausgeschaut wird. Wie wäre es denn mit einer Plattform darin-sind-wir-schweizer-stark.ch oder darauf-sind-wir-schweizer-stolz.ch oder die-schweizer-sind-pioniere.ch oder…

Andere Ideen, um aus den negativen Gedankenmuster auszubrechen?

Übrigens, die Domain sind-wir-schweizerinnen-alle-verbrecherinnen.ch ist noch frei 😉

10 Antworten auf „Ein einig Volk von Verbrechern?“

  1. Danke für diesen sehr gelungenen Beitrag über die PR-Industrie im Mitmachweb. Mit ihren furchtbar uneigennützigen Demokratieförderungsprojekten. Oft beseelt von der Vorstellung, mit etwas „Old-Boys-Networking“ in traditionelle Medien liessen sich ganz tolle Debatierclubs einrichten.

  2. Über Sinn und Zweck und Motiv der genannten Website kann man zweifellos diskutieren. Ihren aufgeregten Tonfall finde ich unnötig, schliesslich handelt es sich dabei bloss um einen Werberfurz. Das tiefe intellektuelle Niveau der Kampagne spricht für sich.

    Aber Ihre Aussage, «Ob etwas richtig oder falsch ist, entscheidet in unserem Rechtsstaat der Richter oder die Richterin», ist kompletter Unfug.

    Richter entscheiden nie über richtig oder falsch, weder im moralischen Sinne noch über Wissensfragen. Der Richter hat allein das Gerichtsverfahren zu leiten, die Beweise zu würdigen, das Gesetz auszulegen und danach das Urteil zu fällen. Die Gesetze wiederum verfassen das Parlament resp. das Volk.

    Eine Frage wie «Ist es richtig, dass der Bundesrat nichts gegen Guernsey unternimmt?» ist eine politische Frage und darüber haben Richter nicht zu entscheiden.
    Schliesslich herrscht in unserem demokratischen Rechtsstaat noch immer Gewaltenteilung.

    Über keine einzige Frage die dort aufgeführt ist, haben Richter zu entscheiden.
    Die Richter entscheiden auch nicht, ob das Bankgeheimnis weiterhin in der Verfassung und in diversen Gesetzen verankert bleibt oder nicht. Das ist allein Sache des Volkes.
    Richter entscheiden nur darüber, ob das Bankgeheimnis in einzelnen Fällen (Steuerbetrug, also Fälschung von Dokumenten, um die Steuerbehörden zu täuschen), gegen den Willen des Kunden aufgehoben werden kann. Dabei berufen sie sich auf die Bestimmungen des Zivilrechts, des Schuldbetreibungs- und Konkursrechts, des Strafrechts, des Verwaltungsstrafrechts sowie der Rechtshilfe in Strafsachen.

  3. @ Frau Müller
    Der «aufgeregte Tonfall» rührt daher, dass es mich immer wieder ärgert, wenn man gegenüber Menschen mit nicht so hohem intellektuellen Niveau etwas suggeriert, das nicht ist. Niemand kann etwas dafür, wieviel Intellekt ihm oder ihr bei der Geburt mit auf den Weg gegeben wurde.

    Der aufgeregte Tonfall rührt aber auch daher, dass mit «ja sind wir denn alle Verbrecher?» wirbt, selber aber vermutlich auch nicht ganz unlauter handelt…

    Über politische Fragen haben Richterinnen und Richter tatsächlich nicht zu entscheiden. Dann darf man m. E. aber nicht nach richtig oder falsch fragen.

    Ist es richtig, dass der Bundesrat die Tinner-Akten vernichten liess?

    oder

    Sind Sie der Meinung, der Bundesrat hätte die Tinner-Akten vernichten lassen sollen?

    Die erste Fragestellung ruft nach einem Richter, die zweite fragt nach der politschen Meinung. So wird der Stimmende nicht zu einem «Meinungsabgebenden», sondern zu einem Richter.

  4. Ich kenne ehrlichgesagt kaum fondueessende Familien, die Stiftungen für ausländische Steuerflüchtlinge auflegen.

    Zur Abstimmung über die Biometriepässe hätte das Bild wohl besser gepasst. Ich kam mir jedenfalls schon ein bisschen komisch vor, als ich letztens beim Passverlängern Fahndungsfoto und Fingerabdrücke abgeben musste…

  5. @ Flashfrog
    Das kann ich gut verstehen. Vermutlich war dabei auch noch ein PC in der Nähe, in welchen man mit kritischem Blick reinschaute (die haben wohl das Vorstrafenregister geprüft 😉 )

  6. Und sowas hier:
    http://www.fr-online.de/in_und_ausland/politik/aktuell/1588830_Meldeamt-als-Datenhaendler.html
    schafft nicht gerade Vertrauen:

    „Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Peter Schaar, (…) kritisierte am Mittwoch auch, dass Kommunen an Melderegisterauskünften kräftig verdienten. So könnte jedermann gegen eine Gebühr bei den Meldebehörden gezielt Adressdaten erfragen, kritisierte Schaar. (…) Um diese Melderegisterauskünfte hat sich allerdings ein ganzer Geschäftszweig entwickelt, der im Namen von Unternehmen diese Daten erhebt. Einige dieser Firmen hatten die Datensätze allerdings – verbotenerweise – in Kopie gespeichert und anschließend weiterverkauft.“

  7. Wie recht Du hast, flashfrog.

    In den letzten drei Wohngemeinden (oder seit 1999) habe ich bei der Einwohnerkontrolle immer jeweils um den „VIP-Status“ gebeten, sodass meine Adresse nicht x-beliebig weitergegeben werden darf (ausgenommen Polizei oder Behörden). Hinzu kommt noch die so genannte Robinson-Liste. Dank dieser sollten Direktvermarkter Deine Adresse löschen. Meiner Erfahrung nach funktioniert das auch, also man hält sich daran.

    Was ich noch nicht ganz verstanden habe, ist die Rolle der Post. Daran arbeite ich noch…

    Allerdings nützt das Ganze nichts, wenn man dann trotzdem an jedem x-beliebigen Wettbewerb mitmacht, bei dem man dann seine Adresse angibt… Das Gleiche gilt übrigens auch für SMS-Wettbewerbe (mit welchen Du Deine Handy-Nummer bekannt gibst).

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