Die weggesperrten Seelen

Am diesjährigen Festival du Film Français d‘Helvétie (FFFH) in Biel wurde am Sonntag auch der Film «Vol spécial» über das Genfer Ausschaffungszentrum «Frambois» gezeigt. Zugeschaut – und anschliessend mitdiskutiert – haben nicht nur der Filmemacher Fernand Melgar selbst, sondern auch die fürs Ausländerwesen zuständige Bundesrätin Simonetta Sommaruga.

Es gibt Themen, die finden für die breite Öffentlichkeit nicht statt. Dazu gehört auch die Ausschaffung von Ausländern, die sich ohne Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz befinden. Dieses Thema findet nur dann statt, wenn «etwas» bei der Ausschaffung schief läuft, insbesondere wenn einer der «Auszuschaffenden» dabei stirb oder scheinbar misshandelt wird, wie kürzlich wieder Filmaufnahmen zeigten.

Schwieriges Unterfangen

Ansonsten ist über diese Menschen, welche am Ende einer langen Kette von juristischen Verfahren stehen, kaum etwas bekannt. Das hat mehrere Gründe. Einer davon ist die Inhaftierung.

Dass es überhaupt soweit kommt, ist nicht selten dem Zufall zuzuschreiben. Einige der Inhaftierten lebten nämlich schon über Jahre hinweg in der Schweiz, gingen einer Arbeit nach, zahlten AHV-Beiträge und Steuern – und werden dann von der Polizei festgenommen, weil sie zum Beispiel wegen einer fehlenden Autobahnvignette auffielen… Sie werden dann weggesperrt und müssen jederzeit damit rechnen, für die Ausschaffung abgeholt zu werden.

Ein anderer Grund, weshalb kaum etwas über diese Menschen bekannt ist, liegt in der fehlenden Lobby. Wer macht sich schon für jene stark, die ohnehin gehen müssen? Und wer will sich schon politisch der steifen Brise aus dem rechtskonservativen Lager aussetzen?

Schliesslich griff bisher aber auch kein Massenmedium dieses Thema auf. Der in Lausanne lebende, auf Dokumentarfilme spezialisierte Fernand Melgar – er drehte unter anderem auch den Film «La forteresse» über den Alltag eines Empfangszentrums für Asylsuchende – brauchte 100 Minuten um in «Vol spécial» einigermassen einen Einblick ins Leben des Ausschaffungszentrums «Frambois» zu geben.

Darum ist es vielleicht ganz gut so, dass bisher kein Massenmedium versuchte, dieses nicht ganz einfache Thema «abzuhandeln». In drei Minuten oder auf drei Seiten bliebe ein Einblick wohl nur genauso oberflächlich, wie manches populistische Plakat über Masseneinwanderung.

Doch einfach war es auch für Melgar nicht, die nötigen Genehmigungen für einen Film über ein Ausschaffungszentrum zu erhalten, wie er im Anschluss an die Filmvorführung erklärte. So stiess er etwa in Zürich auf Widerstand mit dem Argument, dass inhaftierte Menschen nicht in demütigenden Situationen gezeigt werden dürften (obschon er deren Einwilligung hatte). Seine Entgegnung, dass gemäss Bundesverfassung jeder Mensch mit Würde zu behandeln sei, dass es also gar keine demütigenden Situationen geben dürfte, mochte nicht zu überzeugen.

Die Kantone Waadt, Genf und Neuenburg, welche gemeinsam das Ausschaffungszentrum «Frambois» in Vernier betreiben, zeigten sich offener. Unter der Auflage, dass alle Gefilmten ihre Einwilligung gaben und dass er «nur» den tatsächlichen Alltag zeige und kein Film entstünde, um für oder gegen etwas Stimmung zu machen, erhielt er schliesslich die nötige Drehgenehmigung.

Viele Fragen

Der Film selbst hinterlässt viele offene Fragen. Das sei so beabsichtigt, erklärte nach dem Film Melgar, selber Sohn immigrierter Eltern. Er wolle keine Antworten liefern, sondern zum Fragen anregen.

Trotzdem: Der Film zeigt zwar tatsächlich nur Szenen aus dem Alltag von «Frambois», geizt damit aber am falschen Ort an zusätzlichen Informationen. So dürfte beispielsweise vielen Zuschauern nicht bekannt sein, welchen Prozess die Insassen bereits durchlaufen haben, um einordnen zu können, in welchem «Stadion» sich die Protagonisten des Films jetzt befinden.

Zudem fehlt jegliche Hintergrundinformation zu «Frambois» selbst. Das ist nicht unbedeutend, denn währenddem zum Beispiel in Zürich die Auszuschaffenden nur gerade für eine Stunde aus ihren Zellen dürfen, können sie sich im Genfer «Frambois» von acht Uhr morgens bis neun Uhr abends frei bewegen.

Sie kochen beispielsweise auch ihre Mahlzeiten selbst, und der Kontakt zu den Aufsehern ist freundschaftlich und von viel gegenseitigem Respekt geprägt. Um nicht das falsche Bild zu erhalten, in allen 28 Ausschaffungszentren der Schweiz ginge es so (human) zu und her, wäre eine kurze, einleitende Erklärung des «Frambois-Konzepts» hilfreich gewesen.

Und: Es juckt einem schon, auch mehr über den Hintergrund der Auszuschaffenden zu erfahren. Das Publikum erfährt zwar in einigen Fällen einige Häppchen, aber eben nicht mehr. Etwas mehr Informationen liefert die Website zum Film, auf welcher auch zu erfahren ist, dass über den Verbleib der Ausgeschafften im 2012 ein Web-Dokumentarfilm folgen soll.

Ob dieser dann auch die andere Seite zeigt, nämlich jene der entscheidenden Behörden, bleibt offen. Zu hoffen wäre es, denn um verstehen zu können, warum beispielsweise jemand nach 20 Jahren Aufenthalt in der Schweiz ausgeschafft wird, warum Angaben der Betroffenen als «unglaubwürdig» eingestuft werden oder warum Schweizer Behörden Informationen ans Herkunftsland übergeben, welche sich dann negativ auf die Ausgeschafften auswirken, wäre dieser andere Einblick notwendig. Nur so kann sich auch jeder ein Bild über die Mängel des heutigen Systems hierzulande machen – und auf eine Veränderung pochen.

Aber eben: All das kam im aktuellen Film nicht vor. Er bewegte trotzdem das Publikum und zwar wohl in beide Richtungen. So traten Charakteren in Erscheinung, die einem teilweise berührten und teilweise auch nicht, genauso wie einem auch im Alltag von uns Nicht-Eingesperrten einige sympathischer und aufrichtiger erscheinen als andere.

Sympathie oder Aufrichtigkeit sind in dieser Sache aber keine Beurteilungskriterien, dies nicht zuletzt auch deshalb, weil jeder Menschen unterschiedlich auffasst. Darum ist es wichtig, dass alle die gleiche, hoffentlich respektvolle und menschenwürdige Behandlung erfahren. Im «Frambois» ist das der Fall, in den anderen, weniger offenen Zentren vermutlich weniger. Genaueres weiss man nicht, weil – siehe Gründe oben.

Bewegte Bundesrätin

Die fürs Ausländerwesen zuständige Bundesrätin Simonetta Sommaruga bedankte sich anlässlich der Podiumsdiskussion von Herzen beim Filmemacher für dessen Dokumentation und zeigte sich sichtlich bewegt vom Film, was man ihr auch abnahm. Ob sie deswegen oder wegen der Aufregung, vor einem so grossen Kinopublikum sprechen zu müssen, das Mikrophone leicht zitternd hielt?

Sie habe schon einige Zentren besucht, dabei aber natürlich nie einen so tiefen Einblick erhalten. Sie wünschte sich, dass es gar nicht erst zu dieser administrativen Zwangsmassnahme komme und sie eher die Ausnahme bleibe.

Mehrfach erwähnte sie auch die Dilemmas, in welchen sie und die Schweiz sich befänden. So könne man den Auszuschaffenden nicht einfach eine Aufenthaltsbewilligung geben, nachdem sie zuvor langwierige Prozeduren durchlaufen hätten. Andernfalls würde damit gleich die gesamte Prozedur in Frage gestellt. Wie erkläre man den Betroffenen dann, weshalb sie so viele Umstände auf sich nehmen mussten?

Sie betonte aber auch, dass sie die Idee des Asylverfahrens voll und ganz unterstütze, das heisst, dass Menschen, die bedroht seien, die nötige Hilfe erhalten sollen. Und es gäbe in der Migrationspolitik keine (ideale) Lösung, weshalb es auch so einfach sei, mit diesem Thema Politik zu betreiben. Der Applaus des Publikums für diesen Seitenhieb an die Adresse derer, die damit gemeint waren, war ihr gewiss.

In einem Dilemma befände sie sich auch, weil die einen von ihr und insbesondere vom Bundesamt für Migration eine strengere Praxis forderten, währenddem die anderen genau das Gegenteil verlangten. Der Druck auf ihr Departement und ihre Mitarbeitenden sei in dieser Sache sehr gross.

Ein weiteres Dilemma sei jenes der Sans-Papiers. Sie habe den Auftrag erhalten, deren Kindern eine Ausbildung zu ermöglichen. Doch wo Kinder sind, seien auch Eltern. Welchen Status sollen diese in Zukunft haben? Was soll mit den Kindern nach der Ausbildung geschehen? Wenig begeistert zeigte sie sich auch von der Tendenz, Kinder von Sans-Papiers via Schulbehörden denunzieren zu lassen…

Weiter verwies sie auch auf die Problematik der Schwarzarbeit: Sie begrüsse diese natürlich nicht. Aber es wären Schweizer, welche Sans-Papiers zu einem grossen Teil zu Dumping-Löhnen engagieren, damit auch ausnützen und die Schwarzarbeit fördern würden.

Die ganze Thematik mit all ihren Facetten, so zeigte sich anlässlich dieser rund dreiviertelstündigen Diskussion, ist wahrlich keine einfach Kost. Sommaruga – wohl wegen des heiklen Themas und der Dunkelheit während der Filmvorführung in Begleitung von Bodyguards – zollt auf jeden Fall Respekt, dass sie gegenüber der Bevölkerung zum Thema Stellung bezog.

Den aus dem Publikum gestellten Fragen und dem Applaus nach zu messen war ihr das Publikum eher gut gesinnt. Dahinter dürfte allerdings auch eine gewisse Erwartungshaltung stecken, was es für sie auch in Zukunft nicht einfacher machen wird.

«Vol spécial» und der angekündigte Web-Dokumentarfilm – er könnte einschlagen wie eine Bombe – mögen bei einer breiteren Bevölkerung etwas verändern. Die SP-Bundesrätin scheint auf jeden Fall offene Ohren für Veränderungen zu haben. Bleibt zu hoffen, dass es das nächste Parlament auch hat.

Melgar ist es hoch anzurechnen, dass nun – trotz der oben kritisierten Punkte – eine Diskussion über einen Teilbereich des Themas Migration dank vertiefter Einblicke möglich ist. Er liess zudem verlauten, dass sein früherer Film «La Forteresse» für neue Mitarbeiter beim Bundesamt für Migration quasi zur Pflichtlektüre erklärt worden sei.

Erstaunlich, dass private Filmemacher jenen Einblicke über die Dinge vermitteln müssen, die fernab irgendeines Zentrums über diese Dinge entscheiden…

Podiumsdiskussion

Die vollständige Podiumsdiskussion auf französisch kann hier angeschaut werden (runterscrollen bis zum 18.09.2011).

Film-Trailer

Das Kinopublikum lachte bei dieser Szene über die Tierschutzanwalt-Initiative. Doch eigentlich wäre die Sache ja zum Weinen…

12 Antworten auf „Die weggesperrten Seelen“

  1. Danke für diesen umsichtigen und differenzierten Post zu diesem wichtigen Thema. Ich verstehe nicht, wie es administrativ möglich ist, dass Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung einen Lohnausweis erhalten und Steuern zahlen, ohne dass das bemerkt wird. Kannst du mir das erklären?

  2. @ Philippe
    Ich kann Dir nicht sagen, wie genau Arbeitgeber die Angaben der Arbeitnehmer hinterfragen oder überprüfen. Vor allem aber: Woran erkennt man an einem Menschen, woher er stammt? Es gibt viele Ausländer, welche so perfekt schweizerdeutsch, französisch usw. sprechen, dass sie glattwegs als Schweizer durchgehen. Und wer als Schweizer wahrgenommen wird, bei dem fragt man nicht nach einer Kopie des Passes oder einer Wohnsitzbescheinigung…

    Was die Steuern betrifft: Ich kann nur vermuten, dass die Steuerverwaltung auch Direkt-Anmeldungen (also ohne via Einwohneramt) annimmt, sodass dann später nicht auffällt, dass gar nie eine Anmeldung (oder Bestätigung) durch das Einwohneramt erfolgte.

    Eine Direkt-Anmeldung kann beispielsweise bei Selbständigerwerbenden Sinn machen, denn von dieser Einkommenssituation kann das Einwohneramt nichts wissen. Zugleich wird sich die Steuerverwaltung vermutlich sagen, dass es nicht ihre Sache ist, Polizist zu spielen, sollte sie Kenntnis von einer nicht angemeldeten Person haben. Die Steuerverwaltung will Steuern einkassieren, egal wie der Aufenthaltsstatus auch immer lautet.

    Wenn wir nicht einen von A bis Z vernetzten Polizeistaat wollen, dann müssen wir damit rechnen, dass Informationen über uns (und die oben Angesprochenen) eben nicht bei allen Amtsstellen durchgehend verfügbar sind.

  3. Danke für diese Ausführungen. Ich erlebe alle diese Prozesse als enorm bürokratisch – so dass ich mir einfach nicht vorstellen kann, dass diese Kontrollen nicht durchgeführt werden. Von mir aus braucht es auch nicht mehr Kontrollen.

  4. Es gibt doch immer Schlupflöcher.
    Die Frage ist doch nur, wer Interesse daran hat, diese nicht zu stopfen, und die Anzahl der Schlüpfenden.

  5. @ Raffnix
    Wenn Du von Schlupflöchern sprichst, dann gehst Du davon aus, dass eine Sache in sich geschlossen, aber eben löchrig ist.

    Die Sache „Schweiz“ in sich zu schliessen um absolute Kontrolle darüber zu haben, wer ein- und ausgeht, würde bedeuten, rund um die Schweiz eine zehn Meter hohe Mauer zu errichten. Wollen wir uns wirklich selber zu Gefangenen machen und damit zu einer Art DDR zurückkehren?

    Logischerweise bräuchte es dann auch innerhalb des Gefängnisses weitläufige Kontrollen, damit nicht in- und ausländische Kinder heranwachsen, welche nirgendwo offiziell gemeldet sind, so wie die Sans-papiers. Die inländischen Kinder dürften sicher bleiben, würden sie „entdeckt“ werden, die ausländischen müssten aber bitte schön gehen. Und bei den Mischlingen würde dann einfach das Los entscheiden oder so ähnlich…

    Es gibt keine Schlupflöcher, weil es zum Glück auch keine Mauer und keine absolute Kontrolle gibt. Mir graut vor der oben bewusst provokativ dargestellten Vorstellung. Die beste Migrationspolitik ist für mich immer noch die, die es gar nicht erst braucht, weil es keine Migration gibt.

    Das ist zwar Wunschdenken, zugleich aber auch ein Ziel und würde bedeuten, die Probleme dort zu lösen versuchen, wo Migranten zu solchen werden. Damit gäbe es keine vermeintliche „Masseneinwanderung“ und die Rosinenpickerei der FDP (bitte nur gut Ausgebildeten ein Aufenthaltsrecht so lange gewähren, wie es der Schweizer Wirtschaft dienlich ist) entfiele auch.

    Ein klitzekleiner Beitrag können wir zum Beispiel leisten, indem wir Fair trade-Produkte kaufen. Damit dürfte es weniger geben, die wegen lausiger Löhne trotz harter Arbeit zu Migranten werden…

  6. Seit dem Fichenskandal der 80er hat der Informationsfluss zwischen den verschiedenen Behörden zum Glück abgenommen. Zum Teil ist er ausdrücklich verboten. Noch. Rechts- und Mittepolitiker, von Freysinger (SVP) über Ineichen (FDP) zu Lustenberger (CVP) machen sich für einen neuen Schnüffelstaat stark, und Sommarugas Besorgnis zeigt, dass sie nicht in einem Vakuum handeln, sondern sich im Einklang mit ihrer Partei befinden.

    Um den Film richtig zu verstehen, sollte man unbedingt dieses einstündige Interview mit dem Autor sich anhören: http://www.rsr.ch/#/la-1ere/programmes/a-premiere-vue/?date=20-09-2011

  7. „Wenn Du von Schlupflöchern sprichst, dann gehst Du davon aus, dass eine Sache in sich geschlossen, aber eben löchrig ist. “

    Nein, Titus, deine Interpretation ist falsch.

    Ich weiss gar nicht, was du mit der in sich geschlossenen Sache meinst.

    Schlupflöcher sind lediglich diejenigen Löcher in einem System, die von ganz wenigen für ganz wenige geschaffen wurden, um sich Vorteile zu verschaffen.
    Natürlich gibt es auch solche, die aus Versehen geschaffen wurden.

  8. @ Hotcha
    Habe noch nicht reingehört. Deine Bemerkung scheint aber zu bestätigen, dass der Film selber zu wenig Hintergrund-Infos beinhaltet…

    @ Raffnix
    Von welchem „System“ sprichst Du denn? Ich sprach vom System „Migration“, bei dem der Personenverkehr angesprochen ist. Hier irgendwelche Löcher zu schliessen würde bedeuten, den Personenverkehr gesamthaft einzugrenzen oder zu kontrollieren.

    Meinst Du z. B. das System „Steuern“ mit seinen Steuer-Schlupflöchern?

  9. @ The Pedestrian
    Vielen Dank für den Hinweis. Der Gedanke an diese Rede ging bei mir im Laufe des Schreibens verloren.

  10. @Titus
    System Migration… Steuerschlupflöcher…. wie man es schafft, nebeneinander vorbeizur eden… 🙂 …sorry.

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