Die polizeiliche und die juristische Kriminalität

Gewisse Statistiken erhalten viel Aufmerksamkeit. Das ist jedoch kein Garant dafür, dass diese genauer angeschaut werden und deren Sinn hinterfragt wird.

«Jede Person gilt bis zur rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig», besagt der erste Absatz von Artikel 32 über Strafverfahren der Schweizerischen Bundesverfassung. Es ist jener Passus, welcher besser unter dem Begriff «Unschuldsvermutung» bekannt ist.

Angezeigt ist nicht gleich verurteilt

Schuld oder Unschuld hin oder her: Über Straftaten lassen sich wunderbare Statistiken erstellen. So veröffentlichte letzte Woche das Bundesamt für Statistik (BFS) die sogenannte «polizeiliche Kriminalstatistik» zum Jahr 2011.

Der Begriff «polizeilich» deutet es bereits an: Es sind jene Straftatbestände, gegen welche bei der Polizei Anzeige erstattet wurde. Die Gewaltentrennung bringt mit sich, dass die Polizei nicht richtet, also nicht die Rolle der Justiz zu spielen hat.

Darum ist bei Zahlen über die Anzahl Strafanzeigen, insbesondere bezüglich Rückschlüsse auf die Kriminalität, Vorsicht geboten. Eine Strafanzeige gegen eine Person macht diese vorerst nur zu einer beschuldigten und noch nicht zu einer verurteilten Person.

Das gilt selbstverständlich auch für Christoph Blocher und die gegen ihn erstattet Anzeige. Dennoch ziert sich gerade seine Partei nicht, die Zahlen der polizeilichen Kriminalstatistik in Abstimmungskampagnen und Medienmitteilungen für bare Münze zu nehmen.

Dass diese Zahlen ohnehin nie stimmten und nie stimmen werden, hat auch damit zu tun, dass noch lange nicht jede Straftat angezeigt wird. Insbesondere bei Verbrechen gegen die körperliche oder seelische Integrität fällt es den Opfern oftmals schwer, Anzeige zu erstatten. Sie müssen dann auch den Beweis für ihre Anschuldigungen antreten, was wohl selten einfach ist. Es wäre darum fatal, aufgrund dieser Zahlen nun anzunehmen, dass gewisse Straftaten in der Schweiz «nur» so-und-so-oft auftreten würden.

Bei relativ kleinen Vergehen wird ebenfalls nicht immer eine Anzeige erstattet. Wem beispielsweise sein Velo geklaut wird, welches er für 200 Franken an einer Velobörse erstanden hatte, dem dürfte eine Anzeige wenig bringen. Vielfach liegt der Selbstbehalt der eigenen Diebstahlversicherung höher, sodass eine Anzeige nur Umtriebe mit sich brächten.

Allerdings – und damit sei ein weiterer Grund gegeben, weshalb diese Zahlen nie ganz der Realität entsprechen – ist auch das Gegenteil möglich. Das heisst, man kann einen Diebstahl auch Vortäuschen. Ob das 2000-Franken-teure Fahrrad tatsächlich geklaut wurde – oder ob man es ab sofort einfach nur dem Neffen überlässt – lässt sich nur mit viel Aufwand nachweisen.

Etwas vorzutäuschen kann natürlich ebenso bei anderen Straftaten vorkommen, wobei in der Regel die Beweisschuld bei der anklagenden Partei liegt. Dabei kann nicht ausgeschlossen werden, dass die eine oder andere Anzeige aus unlauteren Absichten erstattet wird. So kann sie auch nur einfach deswegen angestrengt werden, um eine Person zu diskreditieren oder um sie unter Druck zu setzen.

Gewagter Vergleich mit überraschenden Ergebnissen

All das geht aus dieser polizeilichen Kriminalstatistik nicht hervor, weshalb wie erwähnt grösste Vorsicht beim Ableiten von Schlussfolgerungen wie etwa «mehr» oder «weniger» Kriminalität im Bereich X geboten ist.

Dies wird besonders deutlich, wenn man diese Kriminalstatistik mit jener über die Anzahl tatsächlicher Verurteilungen vergleicht. Auch wenn für einen Vergleich Vorbehalte anzubringen sind, erlaubt ein solcher dennoch gewisse Aussagen.

Die Basis dafür bilden die nachfolgenden Zahlen. Sie stammen jeweils vom Bundesamts für Statistik (BFS) und bestehen einerseits aus der Anzahl Beschuldigter gemäss der erwähnten Kriminalstatistik (enthält ebenfalls Kinder und Jugendliche) und andererseits aus der Anzahl rechtskräftiger Verurteilungen (für die Jahre 2008 bis 2010 noch ohne die Urteile aus Rekursen, nur Erwachsene) :

 

Wegen den unterschiedlichen Zeiträumen – die Kriminalstatistik wird erst seit 2009 erhoben und von 2011 liegen noch keine Zahlen über die Anzahl Verurteilter vor – wurde aus den zuletzt erhältlichen Zahlen jeweils ein Durchschnitt über drei beziehungsweise vier Jahre errechnet. Die dabei erhaltenen, nominellen Werte werden nachfolgend gegenüber gestellt:

Betrachtet man dies in Prozent, so entspricht die Anzahl Verurteilter über alle Straftat-Kategorien nur gerade knapp 35 Prozent der Anzahl Beschuldigter. Im Einzelnen sieht dies pro Kategorie so aus:

(Die 105 Prozent bei den Vergehen/Verbrechen gegen die Familie rühren daher, weil bei der Kriminalstatistik jenes Jahr zur Anwendung kommt, in welchem Anzeige erstattet wurde, währenddem die Statistik über die Anzahl Verurteilter sich aufs Datum der rechtskräftigen Verurteilung abstützt.)

Sinnvoll oder sinnlos?

Auch wenn bei diesem Vergleich einige Wenn und Aber angebracht werden können (Zeiträume, mit/ohne Kinder/Jugendliche, ohne Rekurs-Entscheide), überrascht es dennoch, wie gross die Differenz zwischen Beschuldigten und Verurteilten ist. Die Differenz ist teilweise so gross, dass man sich fragen muss, was die Kriminalstatistik überhaupt bringen soll.

Wie weiter oben erwähnt, gibt es gute Gründe, weshalb die Kriminalstatistik nie genau einem Abbild der heutigen Realität entspricht. Das tut die Statistik über die Anzahl tatsächlich Verurteilter zwar auch nicht. Da hierzulande aber die Unschuldsvermutung gilt, zeigt sie aber ein weitaus realistischeres Bild darüber, wie es mit der Kriminalität hierzulande steht, nachdem die Schuld bewiesen wurde.

Somit bleibt nur noch die Frage, wie es dazu kommt, dass zwei-, drei- oder viermal mehr Personen einer Straftat beschuldigt als verurteilt werden. Werden hier nicht zuletzt durch die Strafverfolgungsbehörden Leute «auf Reserve» beschuldigt, was in der Folge zu einer derart aufgeblähten (und politisch wie medial zu stark betonten) Kriminalstatistik führt? Oder kennen Sie einen plausiblen Grund?

Andere Beiträge zum Thema

9 Antworten auf „Die polizeiliche und die juristische Kriminalität“

  1. Wieso fehlen Zahlen zu den Straftaten nach Strassenverkehrsgesetz, Betäubungsmittelgesetz und Ausländergesetz?

    «Oder kennen Sie einen plausiblen Grund?»

    In der BFS-Statistik fehlen Verurteilungen, die nicht zu einem Eintrag im Strafregister führen. Verjährung und fehlendes Verfolgungsinteresse sind weitere Gründe. Vor Gericht führen viele Gründe dazu, dass keine Verurteilung erfolgt oder keine, die sich in einem Strafregistereintrag niederschlägt – auch dank Rechtsanwälten, die Beschuldigte und Angeklagte wirkungsvoll verteidigen.

  2. @ Martin Steiger
    Die Zahlen beider Statistiken zusammenzuführen um sie schliesslich einander gegenüberzustellen, bringt eine gewisse Arbeit mit sich. Da es mir ums Aufzeigen der frappanten Differenzen zwischen Beschuldigten einerseits und Verurteilten andererseits ging, habe ich mich darum aus Zeitgründen auf die Straftaten gemäss StGB konzentriert. Bei 80 Prozent aller Beschuldigten, also bei einer sehr grossen Mehrheit an Beschuldigten, ging es gemäss PKS für 2011 um eine Straftat nach StGB. Gemäss den Statistiken über die Anzahl Verurteilter betrafen aber nur rund 30 Prozent der Verurteilungen das StGB. Das macht noch einmal mehr deutlich, wie gross die Diskrepanz zwischen Beschuldigung und Verurteilung ist.

  3. Es ist eine Frechheit.
    Ich bin letztes jahr durch eine vererbte Leberkrankheit bewusstlos geraten nachdem ich wie bei eine Unterzuckerung einige Zeit verwirrt war und dies immer schlimmer wurde.

    Es war keinen Arzt zu erreichen also hat man mir die Polizei auf meinem Dach geschickt. Als ich schlussendlich fast bewusstlos in Bett lag hat die Polizei mich aus meinem Bett gezerrt wonach ich meinem Bewusstsein völlig verloren habe. Anscheinend hat man mich danach gefesselt und die Treppe hinuntergeschleift,dabei haben die mich erheblich verletzt.Sehnenriss in der Schulter und Nervenverletzungen waren unter anderem die Folgen über den Rest zu schweigen….

    Ich erstattete Anzeige als mir auch noch der Transport in Rechnung gestellt wurde.

    Der Staatsanwaltschaft brauchte fast einem Jahr und erst nach wiederholtem nachfragen von meiner Seite hat man endlich reagiert. Natürlich wird das System geschützt wo es nur geht.

    Es gab keine Polizeigewalt,ich habe passiver widerstand geleistet. Tja das tun bewusstlosen halt…

    Dies ist so ein unglaublicher hohn was hier abgeht das glaubt man erst wenn man es erlebt. Ich habe keine Chanse hier zu meinem Recht zu kommen.

  4. Wieso werde ich wegmoderiert? Ich habe ganz klar ein ganz empfindliches Problem. Straftaten der polizei. Ist darüber auch eine Statistik?

    Wo finde ich ein offenes Ohr? Staatsanwälte ermitteln nur selektiv,es ist ja eine Schande.
    I

  5. @ Haddock
    Niemand wird hier „wegmoderiert“, sofern er oder sie sich an die Hausregeln hält. Wir haben das Osterwochenende, da sei es dem privaten Blogbetreiber (also mir) erlaubt, nicht permanent neu eingehende Kommentare moderieren zu müssen.

    Ich bin kein Jurist um mit Sicherheit sagen zu können, ob es hier um Art. 312 StGB „Amtsmissbrauch“ ging. Falls es jedoch darum ging, so wurden 62 Anzeigen im 2010 wegen Amtsmissbrauch eingereicht. Im gleichen Jahr gab es allerdings nur 5 rechtskräftige Urteile.

    In jedem Fall empfehle ich Dir, mit einem Anwalt weiterzuschauen. Da bestimmt verschiedene medizinische Unterlagen beim behandelnden ärztlichen Personal sowie bei Deiner Unfallversicherung vorhanden sind, dürften das sicher wichtige Beweisdokumente fürs Beschreiten des juristischen Weges sein.

  6. Vielen Dank für die Antwort.
    Die Lage ist schwierig. Ich bin nämlich gar nicht adequat medizinisch behandelt und untersucht worden, weil der Arzt der mich anfänglich “diagnostiziert“ hat schon einen fehler gemacht hat.Die haben mich fast eine woche lang eingesperrt bis ich,weil ich selbst nedizinisch unterbaut bin,den boden gewischt habe mit der Unsinn die die auf mich losgelassen haben. Danach haben die nicht gewusst wie schnell die mich loswerden mussten. Niemand wird da die Verantwortung übernehmen wollen es ist einfacher für die das ich mich jetzt kaputt streite.
    Jetzt geht das Gerangele los um die Verantwortung. Ich weiss nict ob ich das Finanzielle tragen kann wenn ich nicht auf ein faire Gerichtliche Verhandlung rechnen kann. Die werden mich daher eher fertig machen. Immerhin ist es eine klage gegen das System selbst.Somit sind meine Rechte gleich null.

    Aber danke für den Tip,ich werde aber leider wenig damit anfangen können. Und die Dunkelziffer derartige Fälle scheint erheblich zu sein…

Kommentare sind geschlossen.