In den letzten Tagen wurde verschiedentlich über die «Erfolge» bei der Bekämpfung strafbarer Handlungen dank Videoüberwachung berichtet. Es scheint, als ob dieses Mittel das Erfolgsrezept gegen derartiges Verhalten ist. Ist dem wirklich so?
So wurden dank Videoüberwachung jene drei jungen Männer festgenommen, welche im Bahnhof von Kreuzlingen zwei Jugendliche zusammenschlugen. Möglich wurde diese Festnahme allerdings erst, nachdem man die Bilder ins Internet stellte.
Auch Basel vermeldete einen ähnlichen Erfolg: Einen der beiden «Bus-Schläger» konnte mittels Veröffentlichung des entsprechenden Überwachungsvideos im Internet ermittelt werden.
Gut zu wissen |
Ein eigentliches «Videoüberwachungs-gesetz» gibt es heute nicht.Die rechtlichen Grundlagen sind manigfaltig. Sie reichen von der europäischen Menschenrechts-konvention bis hin zur kommunalen Verordnung. Selbst im Straf- und Arbeitsgesetz findet die Videoüberwachung Eingang.Für Auskünfte wendet man sich am besten an den jeweiligen Datenschutzbeauftragten. Eine Liste dazu findet sich hier. |
Nicht immer –
aber immer öfter…
Diese Vorgehensweise ist nicht neu, wird aber offensichtlich immer häufiger angewandt.
So ist es auch nicht ausgeschlossen, dass die Aufnahmen «mobiler Videoüberwachungsposten» in Form verdeckt operierender Polizisten anlässlich von Demonstrationen oder Fussballspielen (Hooligans) auch irgendwann den Weg ins Internet finden werden – falls nicht bereits schon geschehen…
Das Aufrüsten mit Überwachungskameras schreitet denn auch munter voran: An der Berner Berufs-, Fach- und Fortbildungsschule sollen solche ebenfalls installiert werden, um Vandalenakten vorzubeugen. Ähnliche Motive waren seitens SBB zu vernehmen, welche auch beabsichtigt im Bereich der Videoüberwachung aufzurüsten.
Die vorgängig erwähnten Fahndungserfolge gibt jenen Recht, welche Videoüberwachungen unterstützen. Das Stadtberner Parlament hätte sich Mitte Mai vielleicht auch zu einem anderen Entscheid erweichen lassen, wären die jüngsten Ereignisse vor der fraglichen Stadtratssitzung geschehen. Gerade erst begonnen hat hingegen die Diskussion im Zürcher Kantonsrat: Hier verlangen FDP-Kantonsräte nach einer verstärkten Videoüberwachung an «neuralgischen Stellen».
Deren jüngeren baselstädtischen Parteikollegen äussern sich in Bezug auf den Vorfall in Basel schon etwas differenzierter und stellen insbesondere die Verhältnismässigkeit des Vorgehens der Basler Behörden in Frage.
Sind aufgrund dieser Fahndungserfolge demnach der Wunsch und die Forderung nach mehr Videoüberwachung berechtigt?
Die Kehrseite
Tatsache ist auch, dass die bereits bestehenden Videoüberwachungssysteme in Kreuzlingen und Basel die erwähnten Übergriffe nicht verhindern konnten. Genau das sollten Überwachungssysteme im öffentlichen Bereich aber eigentlich bezwecken.
Verunsicherten Passanten vermitteln Überwachungskameras zudem ein Sicherheitsgefühl, das schlichtweg falsch ist. Falsch ist es deshalb, weil niemand weiss, ob am anderen Ende der Überwachungskamera wirklich auch jemand zuschaut, der gegebenenfalls auch Alarm auslösen könnte. Gemäss SBB diente die fragliche Kamera im Kreuzlinger Fall «eigentlich der Abwicklung des Zugbetriebs». Mit anderen Worten: Ist kein Zug vorgesehen, dürfte wohl auch niemand das Geschehen auf dem Bildschirm beobachten.
Natürlich kann dieser eine Fall nicht für alle Fälle pauschal gelten. Doch er zeigt deutlich: Wenn Videoüberwachung wirken soll, bevor eine Straftat ausgeübt wird, muss jemand aktiv das Geschehen an einem Bildschirm mitverfolgen und bei «auffälligen Handlungen» sofort Alarm schlagen. Dies wirft unweigerlich die schwer zu beantwortende Frage auf: Was ist auffällig? Reichen dafür schon zwei Jugendliche, die sich einfach nur in den Haaren liegen?
Das falsche Sicherheitsgefühl zeigt sich auch dadurch, dass die Präsenz von Überwachungskameras eher für einen unsicheren Ort sprechen. Wäre es an fraglichem Ort sicher, hätte man da wohl keine solchen Geräte installiert…
Eindrückliche Aufnahme Quelle: Flickr/Markus Merz |
Auf der anderen Seite weiss man heute auch, dass Überwachungskameras nur zu einer Verlagerung der strabaren Handlungen an Orte führt, wo eben keine Überwachung stattfindet. Eine flächendeckende Überwachung ist jedoch in mehrfacher Hinsicht illusorisch.
Ebenso illusorisch ist es zu glauben, längerfristig irgendwelche Chaoten an 1. Mai-Feiern oder Hooligans an Fussballspielen identifizieren zu können. Wer mit einer «Krawall-Absicht» an solchen Anlässen teilnimmt und um die Videoüberwachung Bescheid weiss, wird sich entweder vermehrt vermummen oder futiert sich um allfällige Videoaufnahmen.
Eine Videoüberwachung ist somit nichts weiter als Symptombekämpfung, welche – im öffentlichen Raum angewandt – zu einer pauschalen Verdächtigung aller Gesellschaftsteilnehmer führt.
Der so genannte «Beobachtungsdruck» führt schliesslich dazu, dass sich jeder möglichst unauffällig, sprich möglichst «konform» verhalten will. Ein Mitarbeiter des Luzerner Datenschutzbeauftragten fragt dazu treffend:
«Wie wünschenswert ist eine Gesellschaft von Angepassten? Wie zukunftstauglich ist sie? Wie hat sich die Überwachung in den Staaten
des ehemaligen Ostblocks ausgewirkt?»
Und doch steckt ein Funken Wahrheit im Einwand von bürgerlicher, Stadtbernischer Seite, wonach die Ängste der Linken lächerlich sei, weil «heute schon in jedem Warenhaus, bei jeder Tankstelle, in jedem Parking oder auf jeder Bank per Video überwacht» würde.
Das Problem liegt allerdings nicht in der bereits schon so weit verbreiteten Videoüberwachung, sondern am Unwissen über diese Praktik: Unwissenheit darüber, dass man gefilmt wird, Unwissenheit darüber, was aus den Aufnahmen geschieht und schliesslich Unwissenheit darüber, was für Rechte jeder einzelne bezüglich dieser (Video-)Daten hat.
Gemäss Merkblatt des eidgenössischen Datenschutzbeauftragten zur Videoüberwachung «müssen alle Personen, die das Aufnahmefeld der Kameras betreten, mit einem gut sichtbaren Hinweisschild über das Überwachungssystem» informiert werden. Hier äussert man in der Augenreiberei Zweifel, ob das auch wirklich immer der Fall ist.
Als weitere Bedingung für ein Überwachungssystem gilt: «Sind die aufgenommenen Bilder mit einer Datensammlung verbunden, muss auch angegeben sein, bei wem das Auskunftsrecht geltend gemacht werden kann, falls sich dies nicht aus den Umständen ergibt.» Ob das bei einer Tankstellen die Kassiererin ist? Und beim Warenhaus, ist’s da der jeweilige Filialleiter oder vielleicht nicht eher die Frauen und Mannen jenes Unternehmens, welches für die Sicherheit des Warenhauses engagiert wurden (zum Beispiel Securitas)? So ganz einfach «aus den Umständen» ergibt sich das nicht immer…
Die Videoüberwachung hat heute in den Augen der Augenreiberei aber auch noch einen rechtlichen Mangel: Wer überwacht eigentlich die Überwacher?
- Wer kontrolliert, ob die Videoaufnahmen wirklich nur einem sehr beschränkten Kreis zugänglich sind, wie dies gesetzlich gefordert ist?
- Wer kontrolliert, ob Videoaufnahmen nicht doch zu Marketingzwecken verwendet werden?
- Wer kontrolliert, ob die Aufnahmen tatsächlich nach den von Datenschützerseite her empfohlenen 24 Stunden gelöscht werden?
Auf eidgenössischer Ebene scheint es dazu keinerlei Regelung zu geben. Für ein so sensibles Thema ist das doch ein gravierendes Manko…
Ursachen- statt Symptombekämpfung
Zauberer beeindrucken durch Illusionen, welche vor allem dadurch möglich sind, indem das Augenmerk der Zuschauenden auf eine unbedeutende Handlung abgelenkt wird.
Wer nach Videoüberwachung ruft, ist ein wahrer Zauberer. Er lenkt nämlich ab und zwar von den eigentlichen Ursachen der begangenen, strafbaren Handlungen.
Wie kommt es, dass zum Beispiel in Kreuzlingen rein zufällig zwei Jugendliche ausgewählt und verprügelt wurden?
Im letzten Beobachter vom 12. Juni 2009 wird dazu ein möglicher Grund geäussert: Jugendliche werden oft aus purer Langeweile straffällig. Der Jugendpsychologe Leo Gehrig meint zur Frage, woher diese Langeweile kommt:
«Der Mangel an Gelegenheiten zwang die früheren Generationen noch dazu, etwas aus sich heraus zu entwickeln. Das ist heute gar nicht mehr notwendig. Wir leben in einer Knopfdruckwelt: Man drückt auf die Tastatur des Handys, auf den Knopf am TV oder des iPod, und überall bekommt man sofort etwas. Das lähmt von klein auf.»
Gewiss dürfte dies nicht die Erklärung für alle möglichen Straftaten durch vor allem jüngere Täter sein. Aber es ist sicher ein guter Ansatz. Der vom Bundesrat verabschiedete «Bericht über Jugend und Gewalt» ist zwar eine interessante Abhandlung, enthält hingegen nur ansatzweise jugendpsychologische Aspekte. Videokameras aufstellen ist halt eben einfacher als sich mit der komplexen psychologischen Materie auseinanderzusetzen…
Ich teile die Bedenken. Aber.
Die Schläger von Kreuzlingen und der (die?) Schläger auf dem Bus in Basel sind identifiziert und können angeklagt werden. Auch wenn die Taten dadurch nicht ungeschehen gemacht werden können: Die Festnahme ist ein Signal für jene, die sinnlos zuschlagen (oder in Fussballstadien brennendes Feuerwerk auf Zuschauer regnen lassen).
Vielleicht leben wir in Zeiten, in denen man grundlos herumwütenden Tätern signalisieren muss, dass es eine Grenze gibt. Dass jemand hinschaut – wenn nicht die Passanten, dann halt eine Kamera. Vielleicht muss man Zeichen setzen. Und ja, ich bin der Meinung, dass solche Schlägertypen (hart) bestraft werden und nicht lachend und das Opfer verhöhnend davonkommen. Wenn wir nirgends eine Grenze ziehen, geht das immer weiter, wenn alles möglich ist, ohne dass etwas geschieht, enden wir vielleicht irgendwann einmal wieder beim Recht des Stärkeren.
Traurig ist, dass wir es nicht schaffen, dieses Problem mit Prävention in den Griff zu bekommen. Ich frage mich, wie jemand drauf sein muss, der sinn- und grundlos auf andere Leute einschlägt, was da alles schief gelaufen ist, bis jemand diesen Punkt erreicht.
Womit wir wieder einmal bei der Wertedebatte sind. Werte sind der Anfang. Weil sie nicht mehr zu zählen scheinen (wer sich heute auf Werte besinnt, wird zum moralisierenden Gutmenschen abgestempelt), sind Videokameras das (vorläufige) Ende.
@ Frau Zappadong
Auch ich teile Ihre Bedenken – aber…
…wir dürfen nicht nachgeben, ungeachtet der Etiketten, welche man uns anhängt. Ich weiss, das klingt sehr altruistisch. Nur – die Videoüberwachung ist ja nur ein Beispiel in unserer Gesellschaft, in welcher man Symptom- statt Ursachenbekämpfung betreibt.
Die Frage ist somit, wie wir wieder vermehrt Werte «beibringen»…
Eigentlich läuft es mir ja kalt den Buckel runter sobald jemand in einer Diskussion mit denn „Werten“ kommt. Dieser Begriff ist dermassen überladen/nicht festgelegt/ungenau das jeder darunter verstehen kann was er will, sei er links/rechts/oben/unten etc…
Was mir aber sauer aufstösst und wo ich „Werte“ vermisse, ist dort wo in einem vollbesetzten Bus jemand verprügelt werden kann ohne das dort geholfen/eingegriffen wird.
Die andere Frage die ich mir selber auch stellen muss ist: Hätte ich die Zivilcourage/Die Eier hinzustehen und u.U. bei einem Hilfeversuch selber verletzt zu werden.
Ich wünschte, ich könnte das auch so klar sehen.
Natürlich ist die Videoüberwachung Systembekämpfung. Dummerweise scheint die Ursachenbekämpfung bei ziemliche vielen versagt zu haben.
(Anmerkung in Klammern: Ich unterrichte Jungvolk zwischen 14 und 20 Jahren und was ich da zum Teil höre – unter anderem auch gestern wieder – macht die Sache für mich sehr, sehr schwierig.)
Es ist halt einfach eine Tatsache, dass Menschen völlig grundlos zusammengeschlagen werden und da denke ich dann aus der Sicht des Opfers, das sich wünscht, seine Peiniger würden gefasst und bestraft.
(Zweite Anmerkung in Klammern: Kameras hätten meinem jugendlichen Kursteilnehmer am letzten Wochenende nicht helfen können; er wurde an einem etwas abgelegenen Ort grundlos angegriffen.)
Was ich auch spüre: Bei den Jugendlichen liegt die Toleranzgrenze gegenüber solchen Schlägern / diese rohen Gewalt sehr, sehr tief. Ich verstehe das, denn jeder kennt einen oder mehrere, die zusammengschlagen wurden; zum Teil sind sie selber Opfer von Übergriffen geworden. Diese Jugendlichen wollen, dass die Täter gefasst werden … und es entwickelt sich zum Teil sehr gefährliches Gedankengut gegenüber den Schlägern, bis hin zur heftigen, offenen Ausländerfeindlichkeit.
Ich fürchte, wir haben sehr, sehr viel Ursachenbekämpfung schlicht und einfach verpasst (oder die angebotene Hilfe wurde nicht angenommen) und müssen jetzt nicht zuletzt auch den Opfern und deren Freunden und Bekannten das Gefühl geben, es werde etwas getan. Denn: Genau das Gefühl, dass sowieso nichts getan wird und jeder wüten kann, wie es ihm passt, lädt die Stimmung weiter auf. Und deshalb ist zur Zeit Symptombekämpfung nötig. Dazu würde meiner Ansicht nach auch ein Jugendstrafrecht gehören, dass jugendlichen Tätern früh genug signalisiert, dass sie nicht auf jeden Fall „easy davonkommen“.
Klingt hart, ich weiss. Ich bin dafür, dass jene, die sich nicht an die Regeln halten, bestraft werden sollen. Sonst setzen wir total falsche Signale.
Und wenn dann eine Videokameraüberwachung hilft, Täter zu ermitteln, dann bin ich versucht zu denken, dass in diesem Fall der Zweck die Mittel heiligt. Aber.
Und damit sind wir wieder beim ABER. Wir sind auf einer sehr, sehr heiklen Gratwanderung.
Zu den Werten: Die muss man vorleben. Wenn eine ganze Elterngeneration / Berufsgeneration (Banker ahoi) den Egoismus verinnerlicht hat, fixiert ist auf „das steht mir zu und sonst hole ich es mir, egal wie“, dann wird das noch eine Weile dauern (falls überhaupt), bis bei den Kinder dieser Eltern ein Umdenken stattfindet.
@ Antworter/Frager
Die «Ungenauigkeit» bezüglich Werten rührt vielleicht auch daher, dass bis dato so gut wie keine Diskussion dazu stattfindet. Wäre dies der Fall, würde sich sicher schnell herauskristallisieren, wer was unter Werten versteht und wer welche Werte als wert-voll erachtet.
Zum Punkt der Zivilcourage: Ich frage mich schon auch, wie es kommt, dass man Täter erst anhand von Videoaufnahmen findet und überführen kann. Eingreifen ist eines, hinschauen (statt wegschauen) etwas anderes… Die Rolle des Bus-Chauffeurs ist mir dabei auch nicht ganz klar.
Ob ich eingreifen würde, kann ich auch nicht pauschal beantworten. Das hängt wohl auch von der Situation ab. Ausnahmesituation führen erstaunlicherweise immer zu einer Art Solidarisierung. Wenn z. B. ein Zug mitten in der Landschaft stehen bleibt, sprechen die Menschen plötzlich miteinander, was sie ansonsten nicht getan hätten.
Wenn einer auf einen anderen losgeht, würde ich demnach in einer Situation wie in Basel nach einem oder zwei «Verbündeten» suchen (ein Blick dazu genügt), um sich dem Angreifer in den Weg zu stellen. Findet sich niemand oder sind es mehrere oder sind Waffen im Spiel (z. B. ein Messer), sieht’s wieder anders aus. Wie schon gesagt, so pauschal lässt sich das schwer beantworten.
Was man wissen sollte, ist, dass es in Bussen immer einen Alarm-Knopf gibt (meistens oberhalb der Türen). Mindestens den kann man auch alleine drücken (sofern man in dieser Situation überhaupt auf die Idee kommt…) um so wenigstens den Chauffeur zu alarmieren. Schliesslich hat heute so ziemlich jeder ein Handy im Hosensack. Die Nummer der Polizei sollte eigentlich zum Allgemeinwissen gehören.
@ Frau Zappadong
Vielleicht sollte das Jugendstrafrecht zu einem Jugend- und Elternstrafrecht ausgebaut werden. Den Jugendlichen alleine zu bestrafen scheint mir einseitig. Das wäre so wie wenn in einer Ehekrise nur einer der beiden zur Paar-Beratung ginge…
Es ist Ihnen gelungen, prägnant die unterschiedlichen Aspekte der Videoüberwachung herauszuarbeiten. Mit dem Fazit bin ich jedoch nicht einverstanden. Aus zweierlei Gründen. Erstens: Der präventive Nutzen der Videoüberwachung ist zwar unzureichend, aber als Instrument für die Fahndung ist sie sehr erfolgreich. Dies bloss als «Systembekämpfung» abzutun, halte ich für falsch. Es ist ein legitimes Bedürfnis der Menschen, dass Kriminelle, die die Gemeinschaft unterminieren, gefasst und bestraft werden. Die Frage ist, ob wird dafür die totale Überwachung jeden Individuums in Kauf nehmen. Diese Debatte findet hierzulande leider überhaupt nicht statt.
Nicht einverstanden bin ich zudem mit Ihrem letzten Abschnitt, respektive mit der Deutung des Jugendpsychologen. Jugendliche, die kriminell geworden sind, geben zwar häufig an, dass sie aus Langeweile andere Jugendliche verdreschen gehen. Doch ist diese Langeweile nur der unmittelbare Grund. Die Forschung und auch die Erfahrung zeigen, dass die Gründe für kriminelles Verhalten vielschichtig sind, dazu gehören beispielsweise die Störung des Sozialverhaltens, also psychische Störungen, sowie ein familiäres Umfeld, das den Kindern keine Zuneigung entgegenbringt, keine moralischen Grundsätze vermittelt und ihre Kinder nicht dazu erzieht, solche einzuhalten, zudem elterliche Kriminalität und Gewalt, des weiteren liegen Gründe in der Persönlichkeit des Täters, seiner fehlenden Frustrationstoleranz, der gewaltbefürwortenden Einstellung resp. der gewaltlegitimierenden Männlichkeitsnormen, geringes Scham-/Schuldgefühl gegenüber Aggressivität sowie Gruppendruck/Gruppendynamik in einer delinquenten Clique.
Mit Werten wie «Du sollst nicht stehlen und schlagen» ist diesen Problemen nicht beizukommen, sondern mit Erziehung. Doch haben die Eltern hier massiv versagt. Können diese nun in die Verantwortung genommen werden? Denkbar wäre beispielsweise eine Verschärfung der zivilrechtlichen Haftung der Eltern bei Vernachlässigung elementarer Erziehungspflichten. Zudem müssen mehr Angebote erschaffen werden, die die Erziehungskompetenz der Eltern fördern. Es ist nun mal eine Tatsache, dass viele Eltern mit der Erziehung ihrer Kinder komplett überfordert sind.
Sobald sich aber Politiker in die Sache einmischen, geht es nur noch um Ideologie und nicht um Problemlösung.
@ Frau Müller
Bereits Frau Zappadong hatte im Kommentar #4 den Begriff «Systembekämpfung» verwendet, währenddem ich von «Symptombekämpfung» sprach. Die Worte sind sich ähnlich, die Bedeutung ist es nicht…
Des Weiteren war im Abschnitt bezüglich Langeweile die Rede von «ein möglicher Grund» und von «Gewiss dürfte dies nicht die Erklärung für alle möglichen Straftaten durch vor allem jüngere Täter sein».
Wichtig erscheint mir, den Irrglauben abzulegen, man könne diesem Problem mit einer technischen Massnahme begegnen.
Insofern stimme ich Ihnen durchaus zu, dass es andere Mittel und Möglichkeiten sind, mit denen man hier vorgehen sollte. Nicht umsonst habe ich in Kommentar #5 von einem «Eltern- und Jugendstrafrecht» gesprochen (wobei ich das weniger im strafenden Sinne verstand als vielmehr im Sinne einer gemeinsamen, «ganzheitlichen» Problemlösung).
Ich meinte natürlich Symptombekämpfung, nicht Systembekämpfung.
Der zweite Hinweis galt auch nicht Ihnen, sondern dem Jugendpsychologen, der es besser wissen müsste.
Das problematische an dieser Diskussion ist, dass sie verschiedene Themen vermengt, nämlich die Videoüberwachung und die Jugendgewalt, was einen zum Glauben verleitet, Videoüberwachung wirke bei Jugendlichen tugendfördernd. Sie vermag Täter zu überführen, verhindert aber keine Jugendgewalt.
Hingegen fördert erwiesenermassen das Wegschauen die Jugendgewalt. Wer wegschaut, gibt den «Königen der Strasse» zu viel Spielraum. Das Nichteinschreiten bei Rangeleien unter Jugendlichen oder gar, einen ängstlichen Bogen um diese zu schlagen, unterstützt die irrige – narzisstische – Selbstwahrnehmung, dass einem nichts passieren könne.
http://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/stadt/Viererbande-terrorisierte-Studenten-und-Trampassagiere/story/20933772
Guten Morgen
Ich war in Eile als ich meinen letzten Kommentar schrieb (und wollte trotzdem was sagen …). Natürlich meinte auch ich die Symptombekämpfung. Und wie immer hat das Frau Müller in Kommentar 6 viel besser hinbekommen als ich.
Zu den Eltern: Auch das ist zu kurz gegriffen. Es sind nicht nur die Eltern, die zum Teil hoffnungslos überfordert sind, es sind ganz generell die Erwachsenen, die falsche Signale aussenden. Stars (im Sport, in der Musik, beim Film), die sich durch Geld, Reichtum und Allüren profilieren / Politiker, die die Welt in erster Linie als Selbstbedienungsladen ansehen / Erwachsene (kinderlose und solche mit Kindern), die sich rücksichtslos nehmen, was sie glauben, es stehe ihnen zu / Fernsehstationen, für die man einfach freakig und frech genug zu sein hat, um dort aufzutreten (und nicht wahr, wer im Fernsehen ist, der hat es ja geschafft, sich aus der Menge abzuheben). Die Ursachenbekämpfung müsste also schon mehr sein, als nur (überforderte) Eltern ins Gebet zu nehmen.
Leider, leider, stimme ich Frau Müller zu: Sobald Politiker sich an so was setzen, wirds haarsträubend und geht dann gleich wieder um publikumswirksame Symptombekämpfung.
Zur Symptombekämpfung: Es ist wichtig zu zeigen, dass man sich nicht alles gefallen lässt. Dass es Grenzen gibt. Und dass, wer diese Grenzen überschreitet, mit Konsequenzen rechnen muss. Die Videoüberwachung ist eines von vielen Mitteln, Täter ausfindig zu machen. Sie ist aber nicht das Allheilmittel, als das sie von vielen wahrgenommen wird.
@ Zappadong: Mit der Aussage «Es sind nicht nur die Eltern, die zum Teil hoffnungslos überfordert sind, es sind ganz generell die Erwachsenen, die falsche Signale aussenden» neigen Sie sich gefährlich nahe dem Relativismus zu, bei dem irgendwie alle und letztlich irgendwie keiner Schuld trägt.
Es gibt aber immer noch so etwas wie Eigenverantwortung, das heisst die Möglichkeit, für das eigene Handeln und Unterlassen Verantwortung zu tragen. Die Welt besteht nicht nur aus Paris Hiltons, sondern auch aus Lotti Latrous’, die man sich zum Vorbild nehmen kann. Und auch wenn die Manager in den Chefetagen ungestraft abzocken, so ist es doch äusserst verwerflich, dem Grosi die Handtasche zu klauen, sie so heftig zu Boden zu werfen, dass sie einen Oberschenkelhalsbruch erleidet, worauf sie ihre Wohnung und den Hund aufgeben und ins Pflegeheim muss.
Viele Eltern haben keinen Schimmer davon, wo sich ihre Kinder herumtreiben, mit wem sie verkehren, wie sie denken und was sie fühlen – und es interessiert sie auch nicht. Dies läge aber in der Verantwortung der Eltern und nicht der Gesellschaft.
Liebe Frau Müller
Sie kommen mit Ihrer Aussage ganz nahe an die Aussage meines jugendlichen Kursteilnehmers (jenes Teilnehmers, der am Wochenende vor einer Woche gleich zwei Mal auf dem „Programm“ von Schlägertypen stand).
Er hat in unserer Diskussion die Eigenverantwortung ebenfalls in den Vordergrund gestellt und dabei auch über die Angebote in den Schulen für Schüler in Schwierigkeiten gesprochen, die a) vorhanden sind und von denen b) alle Schülerinnen und Schüler wissen. Es gibt also nebst den Eltern als Anlaufstellen auch bestens ausgebildete Vertrauenspersonen in den Schulhäusern, an die man sich wenden kann.
Zu Ihrer letzten Anmerkung in Kommentar 10. Da haben Sie völlig recht. Ich unterstelle diesen Eltern sogar, sich ganz bewusst nicht zu interessieren, weil es sonst für sie ja in Verantwortung oder gar Erziehungsarbeit ausarten könnte. Viele geben aber auch einfach auf, weil sie sowieso nicht mehr zu ihren Kindern durchdringen (in der Erziehung stellt man die Weichen sehr früh; wer Jugendliche erst ab 13 oder 14 zu erziehen versucht, hat es sehr, sehr schwer).
Es gibt an vielen Schulen starke Bemühungen, die Eltern einzubinden, ja, gar in die Pflicht zu nehmen (das wäre auch einmal ein Thema: Die Schule, die sehr vieles abfangen muss, das anderswo schief läuft). So sind zum Beispiel in unserer Schulgemeinde Elterngespräche Pflicht – wer nicht kommt, wird gemahnt und dann gebüsst. So wird zum Beispiel in unserer Schulgemeinde nicht weggeschaut. Weder im Klassenzimmer, noch auf dem Pausenplatz. Und bei Sachbeschädigungen wird (mit Hilfe der Polizei) so lange nach den Tätern gesucht, bis sie gefunden sind. Das ist zeitintensiv und anstrengend und „weggucken“ wäre wohl einfacher. Ich bin froh, wird hingeschaut.
Auf der anderen Seite kann es aber auch schon mal vorkommen, dass die Polizei einen Jugendlichen aus dem Klassenzimmer holt und ihn mitnimmt … und tags darauf ist er zurück und prahlt damit, dass die ihn laufen lassen mussten.
Um auf Ihr Beispiel mit der alten Dame mit Hund einzugehen: Ja, es ist verwerflich und es gibt keine Entschuldigung dafür. Ich sage nur, dass es den Tätern leichter fällt, eine Tat für sich zu rechtfertigen („die da oben tun das ja auch und kommen davon“).
So, und damit hätte ich mich wieder einmal hoffnungslos verzettelt. Ich entschuldige mich dafür.
Mit der Videoüberwachung meint man wieder mal, etwas bequem flicken zu können, ohne selber Werkzeug in die Hand nehmen zu müssen. Es ist so bezeichnend für diese Gesellschaft, in welcher wir hier leben.
Ja, die Gesellschaft. Denn diese, wir alle also, haben zugelassen, dass die Jugend skrupellosen Geschäftemachern überlassen worden ist. Wo man auch hinschaut: Überall zielt man auf die Kreditkarte der Kleinen und Kleinsten. Um zu treffen, ist praktisch jedes Mittel recht, ich mag gar nicht ins Aufzählen kommen, es wäre doch zu sehr verkürzt.
Aber klar ist: Ich möchte als Elter nicht in die Lage kommen, gegen die Übermacht der Bilder, die das Kind seiner Familie entreissen wollen, anzukämpfen. Und ich möchte nicht Kind sein in einer Welt, wo Erwachsene Kumpel spielen, aber in Wahrheit nur Klingeltöne oder schundige Tops verkaufen wollen. Soll da eines nicht die Pedale verlieren…. Und hier hat die Gesellschaft eindeutig und sicher auch messbar versagt.
Es gibt nichts was jugendliche Strafttäter mehr beeindruckt (und am effektivstens von weiteren Straftaten abhält) als die Angst schnell entdeckt und verurteilt zu werden. Und auch wenn ich eigentlich Videokameras als ein Versagen einer Bürgergesellschaft betrachte – vom Gedanken der Prävention her sind Videokameras nicht ganz unsinnig.
@Mara: es gibt ja diese ‚Prävention‘ bereits an anderen Orten. Mit messbarem Misserfolg, wenn ich mich nicht irre. Aber da kann jetzt wahrscheinlich jede Seite ihre Batterien von Studien auffahren.
England, Videoüberwachungsfan, ist scheint’s momentan von einer Gewaltwelle unter Jugendlichen betroffen.
Zuerst die Städte kaputtmachen, so dass sie des Nachts leer sind, die Bahnhöfe kaputt sparen, so dass die Unterführungen nun überwacht werden müssen, den Jungen überhaupt den lebensraum beschneiden wo’s nur geht – und dann sich wundern, wenn sie den ihnen nicht zugestandenen Raum usurpieren, mit total falschen Mitteln allerdings, leider.
@ Mara
Es gibt sehr wohl Jugendlichen, bei denen es reicht in die Hände zu klatschen und sie schrecken auf und ziehen davon. Aber es gibt eben auch die anderen, die wenigstens vordergründig kein Gewissen und keine Skrupel mehr haben und bei denen man sich mit einem «mahnenden» Wort eher selber in Gefahr bringt.
Soll ich mich wegen jenen wenigen, die sich nicht korrekt verhalten, ständig beobachten lassen müssen?
@ Bruder Bernhard
Sehr treffend formuliert.
@ alle
Ich wirf‘ mal noch einen neuen Aspekt in die Runde:
Erziehung ist heute Privatsache und Privatsache geht den Staat nichts an!
Hierbei stimme ich mir selber zu 😉 Was ich mich hingegen frage, ist, wieso es tausende von Büchern über die Zeit unmittelbar vor und nach der Geburt eines Kindes gibt, aber kaum irgendwelche Bücher für die Zeit «ab 2 Jahren»? Oder täuscht mein Eindruck?
Dies wäre nämlich der freiwillige Weg, sich mehr mit der Erziehung und den Auswirkungen seiner (Nicht-)Handlungen auf die eigenen Kinder auseinanderzusetzen, so wie das unzählige Paare auch freiwillig machen bezüglich Neugeborenen…
@bb/ titus
ich kann nicht aus der Sicht er Verwaltung sprechen – aber diejenigen Jugendlichen die nachher bei mir landen – weil sie gefilmt und sehr schnell beim ersten mal mit den Folgen konfrontiert werden – sind nachhaltig beeindruckt. Diejenigen sieht man selten ein zweites Mal im Justizwesen – ich muss mal im Büro gucken, ob ich dazu nochmal die Zahlen finde.
Etwas anderes ist es, wenn Jugendlichen gänzlich der Freiraum genommen wird – und Gewalt gegen diese Form der Bevormundung gezielt eingesetz wird. Dann ist es jugendlicher Protest gegen, wie ich finde, ein berechtigte Einschränkung! Das braucht andere Massnahmen als Repression.
Aber das Jugendliche auf Händeklatschen reagieren hab ich noch nicht erlebt..:-)
@titus
Nein, ich finde nicht, dass Erziehung eine Privatsache ist. Vielleicht kann man das noch für die Kinder bis 10 Jahre behaupten. Danach ist der Einfluss der Eltern nur noch sehr gering. Entweder Sie haben es bis dahin geschafft echte Respektsperson und Vorbild zu sein – oder es ist dann eh vorbei. Zum Erwachsenwerden eines Kindes braucht es ein ganzes Dorf, mit anderen Worten Eltern allein sind eh mit der ganzen Verantwortung überfordert. (Auch wenn wir immer so tun, als wäre es selbstverständlich nur unsere Sache und wir würden das brilliant gegen alle Widerstände schaffen)
Jetzt wo die Gesellschaft keinerlei Achtung mehr vor der Würde und der Schutzwürdigkeit von Jugendlichen/Kinder hat und deren Leben völlig Materialisiert und sie selber kommerzialisiert hat, finde ich den Ruf nach mehr Elternverantwortung zynisch. Ich kann tausendmal meinem grossen sagen, dass ich die WErbung frauenverachtend sexistisch und würdelos finde – Einfluss darüber, dass er sie sieht, und damit auch sein erwachen als sexueller Mensch davon beeinflusst wird, hab ich längst keinen mehr.
(trauriges Nicken)
Es ist also ein Fehler der Gesellschaftsordnung. Wo sind die Denker (und Dichter meinethalben) die hier wirklich aufräumen? Wer ändert endlich im Grossen und Kleinen dieses Fehlverhalten? Wo fängt die Verantwortung des Staates und die der Familie an? Wer kontrolliert die Kontrolleure? Gibt es noch soetwas wie Vertrauen und Verantwortung? Wer traut wem überhaupt noch? Können wir aus der Geschichte (ua. DDR und ihres ehem. „Ministeriums für Staatssicherheit“) nicht endlich lernen, Rückschlüsse ziehen und es einfach mal wirklich besser (im Sinne von Klüger und Menschlicher) machen? Was muss noch passieren…
Kameras sind nie eine Lösung. Vielleicht ein Werkzeug. Aber in keinem Fall eine Verbesserung. Infrastrukturen in einem Geschäft müssen den Umgang beispielsweise mit Dieben definieren, nur die Kamera allein ist ein Pfiff in den Wind. Meist eh nicht anerkannt bei einer Anzeige (eher nur Verdachts erhärtend). Doch warum dann das Drängen nach mehr offener und gleichzeitig auch verdeckter Überwachung? Die Verantwortung zur Erziehung und zum Respektvollen Umgang mit Zeitgenossen und Werten wird durch die Kluft von Arm und Reich immer weiter verdrängt…
Hätte ich nur die Zeit länger darüber nachzudenken. Aber wie gesagt: eine Kamera ändert nicht den Sachverhalt an sich, nur die Umstände…