Gestohlene Kindheit

Die Welt, vor allem aber die Massenmedien, kennen zurzeit nur ein Thema: Der Tod Michael Jacksons. In einem Punkt scheinen sich alle einig zu sein: Als Musiker war er ein Genie, als Mensch blieb er ein Kind.

Schuld daran sei, dass er nie hätte Kind sein können, da er schon als solches ins Showbusiness gedrängt wurde, also dass ihm seine Kindheit gestohlen wurde. Nicht umsonst schuf er sich auf seiner Ranch «Neverland» sein eigenes Disneyland, um so das zu kompensieren, was ihm als Kind verwehrt blieb.

Trotz dieses prominenten Opfers einer gestohlenen Kindheit spricht ob dem ganzen Hype um seinen Tod niemand davon: Jenen Kindern, denen zurzeit ihre Kindheit gestohlen wird…

 

Gaza children

http://www.flickr.com/photos/andreasl/ / CC BY-NC 2.0

 

Traurige «Jubiläen»

Erinnern Sie sich noch: Im Juni 2007, also vor zwei Jahren, hatte Israel die Grenzen zum Gaza-Streifen geschlossen. Erinnern Sie sich auch noch daran: Gestern vor sechs Monaten, am 27. Dezember 2008, begann die Offensive Israels gegen – «offiziell» – die Hamas.

Gaza children

http://www.flickr.com/photos/andreasl/ / CC BY-NC 2.0

Trotz dieser beiden traurigen «Jubiläen» scheint kein Massenmedium auf die Idee zu kommen, sich wieder einmal nach dem Stand der Dinge zu erkundigen.

Dieser «Stand der Dinge» war schon vor Juni 2007 unbefriedigend und hat sich während der letzten zwei Jahre logischerweise nicht verbessert. Mit der 22-tägigen Offensive ab dem 27. Dezember 2008 hat sich die Situation noch einmal massiv verschlechtert.

Unbekannte Folgen

Und damit nicht genug: Weil Israel nach wie vor eine sehr restriktive Politik betreibt, was die Lieferung von Gütern in den Gaza-Streifen betrifft, nützen all die gesprochenen Milliarden von US Dollars für den Wiederaufbau nichts. Vielmehr verschlimmert sich die Situation weiter durch zunehmende Mangelernährung, Verunreinigung des Frischwassers wegen kaputten Zuleitungen, beschädigte Abwasserleitungen usw…

Unbekannt bleiben die psychischen Folgen der betroffenen Bevölkerung, einer Bevölkerung welche sich gemäss UNICEF-Angaben aus fünfzig Prozent Kindern (unter 18 Jahren) zusammensetzt!

Gaza children

http://www.flickr.com/photos/andreasl/ / CC BY-NC 2.0

Es überrascht daher wenig, wenn TIMESONLINE schon im Dezember 2007 berichtete, wie Jugendliche «Kriegerlis» spielen. Oder, um es mit den Worten des umstrittenen, jüdisch-stämmigen Amerikaners, Norman G. Finkelstein zu sagen:

When you cage people into a ghetto, deprive them of food, deprive them of medicine, (…), you really don’t need Mickey Mouse to teach them to hate Israel.

Nach Angaben der NGO-Organisation «Palestinian Centre for Humain Rights» (PCHR) waren unter den 1417 palästinensischen Opfern 313 Kinder. 1606 Kinder wurden verwundet. Das PCHR beziffert jedoch nicht, wie viele der 1.5 Millionen Einwohnern des Gaza-Streifens an psychischen Folgen leiden – oder noch leiden werden.

Gaza children

http://www.flickr.com/photos/andreasl/ / CC BY-NC 2.0

Das liegt vielleicht auch daran, weil die israelische Blockade nicht nur die Hamas trifft, sondern einer kollektive «Bestrafung» gleichkommt. Insofern leiden 1.5 Mio Erwachsene und Kinder psychisch unter dem Entzug der Bewegungsfreiheit, der Ungewissheit über eine ausreichende Ernährung und medizinischen Versorgung, dem Verlust des Sicherheitsgefühls, dem Gefühl der Ausgeliefertheit und der Abhängigkeit durch andere mangels fehlender Prothesen, dem Gefühl seine Familienmitglieder nicht ausreichend versorgen zu können aufgrund der zunehmenden Armut und der hohen Arbeitslosigkeit (44 %), usw…

Kinder als Opfer – und niemand schaut hin

Die «unschuldigsten» Opfer sind die Kinder. Für sie ist der Gaza-Streifen auch zum «Neverland» geworden, im wahrsten Sinne des Wortes. Nur ist da kein Paparazzi, kein über diesem Gebiet kreisender Helikopter, welcher Bilder über die Tragödien vor Ort einfängt, kein weinender Anhänger.

Gaza children

http://www.flickr.com/photos/andreasl/ / CC BY-NC 2.0

Diesen Kindern wird gerade eben die Kindheit gestohlen. Und niemand schaut hin, niemand tut etwas. Gründe zum Weinen gäbe es genug – einige davon sehen Sie oben…

8 Antworten auf „Gestohlene Kindheit“

  1. @Titus:
    Es wird schon hingeschaut – allerdings scheinen längst nicht alle das von Dir beschriebene sehen zu wollen: wer IKRK, UNHCR, UN Special Rapporteur, Amnesty International, Human Rights Watch, Oxfam, MsF, EU, EDA, ‚die Medien‘ als Ueberbringer des Unangenehmen abtut, der sieht im Gaza – Streifen halt primär die ‚radikal – islamistische Hamas‘ am Werk

  2. @ Ate
    Was André meint, ist, dass viele nicht auf Quellen hören wollen, die politisch neutral sind und einzig die Menschenrechte in den Vordergrund stellen. Es sind zudem die einzigen, die heute noch Zugang zum Gaza-Streifen haben.

    Wer die «Bösen» und wer die «Guten» sind ist hier nicht das Thema. Kinder gehören weder zu den einen noch zu den anderen. Sie sind in einem Konflikt immer die Opfer.

  3. Natürlich wird auch hingeschaut – Aber unsystematisch – unreflektiert und einzelschicksalbezogen.

    Und natürlich kümmern sich internationale Organisationen um die Schwächsten – aber diese sind ungefähr genaus „unabhängig“ wie die Medien – auch interantionale Organisationen, egal ob staatlich oder NGO haben mit einem Finanzierungslegitimation zu kämpfen. Geld fliesst sehr viel besser, wenn man sich um bestimmte Opfer kümmert – Medienwirksame Opfer, Opfer in Krisensituationen, Opfer bei denen man scheinbar in Schwarz und Weiss denken kann. Und gerade in Zeiten, in denen Spendengelder langsamer fliesse kümmert man sich am liebsten nur noch um solche, die sich telegen (und damit spendenbezogen) arbeiten lässt. Längst vergessen sind schon wieder die afrikanischen Kindersoldaten, die indischen Zwangsarbeiter und wer gibt noch Geld für Rugmark?

    Politisch neutral? Gibt es sowas? Die einen haben klarere und offene Interessen an einem Land – andere weniger – und politische Neutralität war schon im kalten Krieg viel zu häufig ein Synonym für „wir wollen mit allen gute Geschäfte machen“.

    Aber abgesehen von all dem, gibt es selten Projekte die ausschliesslich Kindern helfen können, auch Hilfrsprojekte sind Faktoren in einem gesellschaftlichen System, dass die einen bevorzugt, die anderen unterstütz. Analysen von Spendengelder in afrikanische Dauerkrisensituationen haben leider auch eines gezeigt – auch projektbezogene Gelder haben in erster Linie demjenigen langfristig am meisten genutzt, der gerade an der Macht war und sich eigentlich um das Wohl der Kinder hätte kümmern sollen. Denn wenn reiche Amerikaner und Europäer für die Kinder spenden, bleibt auch wieder mehr Geld übrig um die eigene Armee aufzurüsten.

  4. @ Mara
    Und doch: Sind es nicht die Einzelschicksale, die uns zum Nachdenken bringen und die uns erkennen lassen, dass da noch mehr Betroffene sind?

    Reagieren wir oftmals nicht relativ gleichgültig auf gewisse Umstände bis dass wir von einem Einzelschicksal erfahren, das uns die Augen öffnet für ein Problem in seiner Gesamtheit?

  5. @Titus

    Alles mögliche kann einen zum Nachdenken bringen.Und nein, ich bin überhaupt nicht der Meinung, dass dies nur ein Einzelschicksal kann. Einzelschicksale sind Einzelschicksale – sie sagen erstmal überhaupt nichts über Gesamtzusammenhänge aus. Von einem Einzelschicksal auf die Gesamtheit zu schliessen verfälscht strukturelle Zusammenhänge und verschleiert Gemeinsamkeiten.

    Und KInder, ein einzelnes Kind, als Cover im direkten oder übertragenen Sinn zu verwenden ist genau das was ich oben angesprochen habe – ein Benutzen eines Kindes. Es wird nicht gefragt ob es das will, und kann kaum zustimmen oder ablehnen seine Geschichte zu lesen. Benutzt für eine gut Story, um möglichst viele ein paar Minuten an ein Schicksal zu fesseln. – Informationsinteresse? Handelt ein Journalist dann besser, als Eltern die ihre Kinder vielleicht arbeiten/betteln schicken? Das Mitleid mit Kindern kann man auf verschiedene Art und Weise ausnutzen – es wird nicht besser oder schlechter durch den der es tut.

  6. @ Mara
    Die Meinung war nicht, Anhand eines Schicksals die Gesamtzusammenhänge zu verstehen. Die Rede war vom Erkennen eines Problems «in seiner Gesamtheit». Damit meinte ich, dass manche Krankheit, mancher Schicksalschlag wie Scheidung, den Verlust einer wichtigen Person, Arbeitslosigkeit usw. viele unberührt lässt, bis sie selber anhand eines Einzelschicksals merken, dass da «mehr» ist (mehrere Erkrankte, mehrere Arbeitslose, usw.).

    Was die Bilder betrifft, habe ich nun den «Wink mit dem Zaunpfahl» verstanden und nehme die Kritik zur Kenntnis.

    Mir ging es um den Ausdruck der Augen, welcher kritisch, traurig, aber auch leuchtend, lebensfroh und aufgeweckt ist. Es ist eine Tatsache, dass wir oftmals mehr aus dem Gesicht eines Menschen «lesen» als über Worte. Nur die Augenpartien zu zeigen hätte aber nur die Hälfte dieser Ausdrücke rübergebracht.

    Im Vorfeld dieses Artikels hatte ich mich beim norwegischen Fotografen über den Kontext, unter welchem diese Bilder aufgenommen wurden und über die Einbindung in diesen Artikel erkundigt, worauf er sein OK gab. Das ist nicht automatisch eine Legitimation, doch schien mir beim E-Mail-Verkehr, dass er sich seiner Verantwortung sehr wohl bewusst ist und nicht einfach unbedacht und zur reinen Effekthascherei auf den Auslöser drückt. Dafür zeugt auch die bewusst gewählte Perspektive.

  7. Titus – du hast deinen Finger mit Recht auf diesen wunden und eitrigen Punkt der Berichterstattung gelegt. Der Rest (die Reaktionen) ist dummes oder intellektuelles Bla Bla (was aufs Gleiche herauskommt). Mehr kann ich dazu nicht sagen. Manch Journalist könnte sehr viel von dir lernen. So ist das.

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