In der ganzen Welt werden Topmodels, Tänzer, Sänger und andere talentierte Menschen mittels Reality-TV-Shows gesucht, be- und manchmal auch verurteilt. Doch gute Vorbilder sucht keiner, obschon gerade diese in der heutigen Zeit gefragt wären…
Bundesrat Moritz Leuenberger stellt in seinem letzten Blog-Beitrag die Frage nach den Schuldigen im Falle der Küsnachter Jugendlichen, welche in München mehrere Personen brutal zusammengeschlagen hatten.
Er beantwortet diese Frage mit weiteren Fragen:
«Statt auf „die anderen“ zu zeigen und darauf, was sie alles falsch gemacht haben, sollten wir uns in unserer jeweiligen Position selber fragen, ob wir alles tun, um Amok, Mord und Totschlag, Autoraser und Sturmgewehrmissbrauch, Gewalt und Aggression zu verhindern.
Tun wir genug, um die Verherrlichung von Gewalt zu unterbinden und um Gewalt in Familien und Quartieren zu verhindern? Tun wir genug, damit Jugendliche sich und uns ihre Kräfte so beweisen können, ohne dabei Menschen zu verletzen und zu töten? Dafür tragen wir alle Verantwortung, auch Jugendliche.»
Wenn etwas «normal» wird…
Diese Fragen sind berechtigt, doch deren «Umsetzung» ist leider nicht so einfach. Wo Leid geschieht – und sei es «nur», indem jemand gleich nebenan zusammengeschlagen wird – wird weggeschaut. Es ist heute traurige Usanz, sich nicht einzumischen, sich abzuwenden von denen, die Unrecht tun, aber auch von denen, die Hilfe und Unterstützung benötigen würden.
Dass es «normal» ist, liegt zweifelsfrei auch daran, dass niemand es anders macht, dass niemand etwas Anderes vormacht.
In den Leuenberg’schen Blog-Kommentaren findet man oft den Ruf nach besserer Erziehung durch die Eltern auf der einen und durch «die Gesellschaft» auf der anderen Seite. Diese Aussagen erwecken den Eindruck, dass Eltern ihre Kinder vernachlässigen. Das mag teilweise der Fall sein. Doch viel eher glaubt man in der Augenreiberei daran, dass die Eltern ihre Kinder nicht vernachlässigen, sondern schlechte Vorbilder für diese sind.
Diese Aussagen bezüglich schlechter Erziehung erwecken aber auch den Eindruck, dass Menschen nur während ihrer Kinder- und Jugendjahren «geformt» werden, so als ob man als Erwachsener immer allen Einflüssen widerstehen könnte, die einem «verformen» könnten. Gewiss sind Menschen in jungen Jahren einfacher zu beeinflussen. Doch zu glauben, dass Erwachsene sich jeglicher Form von Einflüssen widersetzen könnten ist wohl ziemlich naiv.
Unterschwellige «Erwachsenen-Erziehung»
Deshalb wäre es auch zu einfach, es nur beim Vorwurf an die Eltern zu belassen, sie wären ihren Kindern ein schlechtes Vorbild.
Auch Eltern, oder verallgemeinernd ausgedrückt, auch Erwachsene kennen Vorbilder und Leitfiguren; der Mensch ist bekanntlich ja auch ein Herdentier. Natürlich hängen die Erwachsenen meistens keine Poster ihrer Vorbilder mehr an die Wand, da sie oftmals auch nicht wirklich bewusst als Vorbilder oder Leitfiguren wahrgenommen werden. Sie treten vielmehr unterschwellig in Erscheinung.
Diese im Rampenlicht stehenden Vorbilder üben Handlungen aus, welche nicht unbedingt «gut» oder «sinnvoll» sind, aber aufgrund der handelnden Person, dem von vielen verehrten Vorbild, legitimiert werden. Sie machen etwas vor und weil sie es machen, darf es die «Herde» auch.
Es gibt in der Vergangenheit, aber auch in der Gegenwart unzählige Beispiele dafür. So kauft heute zum Beispiel keiner mehr Aktien, um von der Dividende zu profitieren, sondern vom Kursanstieg. Das machen die «Grossen» so, also darf man das als «Kleiner» auch…
Oder ein Politiker poltert ziemlich heftig über eine Sache, also darf man das selber auch. Oder eine Partei zeigt rassistische Inserate, also darf man solche Abbildungen auch verbreiten. Oder ein Filmstar entrüstet sich über ein zu dunkelgrünes Salatblatt, also darf man das in der Nachbarsbeiz auch. Sie merken, es kann durchaus auch abstrakte, absurde Handlungen geben, doch das merkt die «Herde» nicht – oder nicht sofort.
Gutes Vorbild für eine friedliche Protestbewegung:
Mohandas Karamchand Gandhi («Mahatma Gandhi»)
(Quelle: Wikipedia/Flickr, gemeinfrei)
Diese Vorbilder und Leitfiguren sind die Verkörperung jener Werte, für die sie einstehen, egal ob es sich nun im Auge des Betrachters um gute oder schlechte Werte handelt.
Auf der Suche nach den «richtigen» Werten
Da eine Werte-Diskussion kaum stattfindet, geht die Augenreiberei die Sache von einer anderen Seite an und stellt deshalb die Frage:
Was sind Ihrer Meinung nach «gute» Vorbilder oder Leitfiguren?
Wo sind sie, die Menschen, denen man als «Herdentier» folgen soll oder folgen darf und die andere für ihre «gute» Sache begeistern können?
Da sprichst Du etwas an, dass mich bereits in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts intensiv beschäftigte. Ich habe damals das Buch „Eisenhans“ von Robert Bly gelesen und an einem entsprechenden (Männer-)Workshop teilgenommen. Dort ging es u.a. um die sog. (männlichen) Vorbilder. Wir alle waren etwa gleich alt (50er Jahrgänge)und erlebten also den Übergang von der erdrückenden Enge in die „Sex, Drugs and Rock’n’Roll“-Zeiten. Die Männerrunde (Österreicher, Deutsche und Schweizer) war auffallend still geworden. Niemand konnte sich dazu äussern. Unsere Väter erlebten wir praktisch ausnahmslos als abwesend. Die konnten also nicht als Vorbild herhalten. Im Gegenteil. Dann plötzlich platzte einer in die Runde, dass er in seiner Bubenzeit halt den ‚Winnetou‘ als heimliches Vorbild gehabt hätte. Und wir anderen? Wir schauten uns betreten an. Jeder von uns hatte nämlich damals das gleiche Vorbild: Den ‚edlen Indianer‘, der sich nicht korrumpieren liess und sich für die Schwachen und gegen das ‚Böse‘ einsetzte.
Ich glaube, dass es nicht so sehr um Ikonen geht, sondern um Werte, die wir gerne mutig leben würden. Denn Menschsein ist nicht nur eine theoretische Aufforderung, Mannsein verlangt von uns so Einiges ab. Vorbilder könnten uns da sicher vieles erleichtern. Doch befriedigender finde ich es, wenn ich mir selbst zum VOR-Bild werde.
Ich bin ja auch einiges jünger, also darf ich mir heute die gleichen Fragen stellen 😉
Natürlich gibt jeder gerne selbst das Vorbild ab. Es besteht dabei allerdings die Gefahr der Selbstüberschätzung und/oder der Selbstverherrlichung. «Schaut her, was ich doch für ein guter Kerl bin», um es etwas überspitzt auszudrücken.
Ich vermute, dass wenn wir selbst zum Vor-Bild werden, wir uns trotzdem an den anderen orientieren und zwar nicht unbedingt was die guten, sondern eben die weniger guten Seiten betrifft, ganz im Sinne von: «So wie der möchte ich nie sein/werden». Es kann kein Urteil über schönes Wetter geben, wenn wir nicht gleichzeitig einen Vergleich mit dem schlechten Wetter anstellen. Daher gibt’s wohl immer mindestens ein Schielen auf den oder auf das Andere.
Ich meinte es wortwörtlich: „Sich-Selbst-Vor-Bild-sein“. Ich geb‘ mir selbst das Bild vor, in das ich hineinwachsen möchte. Also nicht Vorbild für Andere sein, sondern Vor-Bild für mich selbst sein. Früher nannte man das höchst poetisch: Die Selbstbemeisterung.