Vorhersagen

Es war einmal… eine Welt, in welcher die Börsen dieser Welt in den Nachrichten keine Rolle spielten. Was lebten wir doch glücklich und zufrieden in den Tag hinein, so ganz ohne Dow und Jones, DAX oder SMI…

Die Geschichte zum Sonntag

Eigentlich glaubte man, dass man das 1929 gesehene Gesicht der bösen Hexe «Börsencrash» nie mehr sehen würde. Die Welt wurde 1987 eines Besseren belehrt. Ab diesem Zeitpunkt gehörte es zum guten Ton jedes Mediums, den Stand des Dow-Jones-Indexes oder des SMI bekannt zu geben.

Was hinter dem Begriff «SMI» genau steckt, wissen zwar die Wenigsten. Die Vermutung, es handle sich um einen Sado-Maso-Index, ist offiziell zwar falsch. Inoffiziell ist jedoch bekannt, dass, wer an der Börse handelt, schon eine gehörige Portion Masochismus mit sich bringen muss. Denn die böse Hexe zeigte in den vergangenen 20 Jahren immer wieder mal ihre sadistische Ader.

Noch wurde kein Kraut gefunden, um sich ihrer zu entledigen. So bleibt eben nur die Möglichkeit, behutsam den Zustand von Dow-Jones und SMI zu verfolgen, wenn’s sein muss mittels Live-Schaltung zu Jens Korte aufs Börsenparkett nach New York. Seinem aufmerksamen Blick des Börsengeschehens «ennet» dem Atlantik und seinen fachkundigen Ausführungen sei dank, dass man in den Schweizer Stuben versteht, weshalb denn nun der Dow-Jones-Index um ganze zwei Prozent einsackte.

Wenn dieses oder ein ähnliches Szenario eintritt, so ist der Augenreiberei der Besuch am folgenden Morgen von Frau Habermacher, Hausfrau, Mutter und Nachbarin zur Augenreiberei, gewiss. Sie will dann wissen, ob denn diese Entwicklung einen Einfluss auf die Rechnung der Billag habe, welche sie heute bezahlen wollte, ob sie denn nun besser ihre Bio-Magermilch in der Migros statt im Coop einkaufen gehen soll und ob sich der Preis dafür um zwei Prozent senken oder erhöhen werde.

In der Regel reicht es aus, Frau Habermacher zu versichern, dass die Kühe die Live-Schaltung nach New York nicht gesehen hätten und deshalb weiterhin Magermilch geben würden und dass das Futtermittel Heu für den kommenden Winter ohnehin schon eingefahren worden sei, bevor der Dow-Jones-Index um zwei Prozent sank.

Sie möge ihn ja, den Jens, und schrecke jedes Mal erfreut in der Küche auf, wenn sie sein anfängliches «Nun ja» aus dem Fernsehgerät im Wohnzimmer höre. Doch wozu die Live-Schaltung diene und wozu sie wissen müssen, was dieser Dow und Jones wieder angerichtet hätten, sei ihr nicht wirklich klar. Es herrscht einen Moment lang ein beklemmendes Schweigen an der Türe zur Augenreiberei…

…bis dieses von der durch Herrn Baumgartner wütend zugeschlagenen Türe, dem andern Nachbarn zur Augenreiberei, unterbrochen wird. Das ist die Rettung, denn: Er handle hobbymässig mit Wertpapieren an der Börse, folgt flüsternd die Erklärung an Frau Habermacher, und dafür sei es notwendig zu wissen, was an den Börsen dieser Welt so geschehe. Das sei etwa so wie wenn die Meteorologen heute das unvorhergesehene Wetter von gestern erklärten.

«Ja aber…», flüstert Frau Habermacher zurück, wenn ihr Gatte hobbymässig fischen gehen wolle, dann interessiere ihn das Wetter von gestern gar nicht mehr, sondern jenes von morgen und dafür sei die Live-Schaltung zu Bucheli, den sie übrigens auch sehr mag, doch wichtiger und müsste, rein hobbymässig betrachtet, vor dem Jens erfolgen…

Ich erwäge den Gedanken, ihr von bösen Hexen zu erzählen, welche gleichbedeutend wären wie Hagelschlag, der die Fische vertreibt und den Fischer verletze, weshalb es notwendig sei, das Geschehen am Horizont ständig zu beobachten, um sich und seine Utensilien rechtzeitig in Schutz zu bringen. Doch soweit kommt es nicht:

«Sagen Sie mal…», fährt Frau Habermacher wieder in normaler Lautstärke fort, nachdem Herr Baumgartner, ohne eines Blickes würdigend, an uns vorbeigestampft ist, «…haben Sie auch von dieser schweinischen AHA-Grippe gehört?» Ein provokatives Nein liegt mir auf der Zunge, wohl wissend, dass sie die «A(H1N1)-Influenza» meint, nicke dann aber doch bejahend.

Ob denn die Vorhersagen über die Zahl an Erkrankungen und Todesfällen stimmen würden, von denen sie fast täglich immer wieder höre und lese. «Nun ja», beginne ich mit wichtigem Blick und schräg gehaltenem Kopf, ganz den Jens Korte imitierend. So genau wisse das eigentlich niemand, erkläre ich ihr weiter, immer noch unter dem Türrahmen stehend.

So erschrocken und zugleich fragend wie Frau Habermacher mich nun ansieht, sehe ich mich gezwungen noch etwas nachzuschieben. «Schauen Sie, das ist etwa so wie wenn sich dunkle Wolken am Horizont zeigen und der Regenschirm noch nicht erfunden worden wäre. Ob die Wolken tatsächlich Regen bringen und wie viel Regen es geben wird, wissen wir nicht. Und wie Sie sich davor wirkungsvoll schützen können ohne nass zu werden, ist auch ungewiss.»

Mit noch immer grossen Augen und mit nicht weniger erschrockenem Blick öffnet sich langsam ihr Mund um verunsichert nachzufragen, ob es denn niemanden gäbe, zu dem man eine Live-Schaltung machen könne und der einem erkläre, was noch kommen werde.

Bereits leicht genervt gehe ich innerlich die Liste der «Experten» durch, welche sich in den vergangenen Tagen gerne im medialen Licht zeigten, um dann mit einer Gegenfrage anders zu antworten, als sie dies wohl erwartet hatte: «Was machen Sie eigentlich, wenn Sie dunkle Wolken am Horizont sehen?»

Sie weiche ihnen selbstverständlich so gut wie möglich aus, gibt Frau Habermacher zurück. Ich nicke zustimmend und frage weiter, ob sie nichtsdestotrotz auch schon verregnet wurde. «Ohhh ja, gerade vor zwei Wochen, als morgens um acht die Sonne schien und zwei Stunden später es wie aus Kübeln goss!» Ob ihr denn der Regen geschadet hätte, will ich dann von ihr wissen.

Sie verneint, fügt sogleich aber noch hinzu, dass sie in so einem Fall anschliessend immer darauf achte, so schnell wie möglich wieder trocken zu werden. Nun drehe ich noch etwas auf und frage, wie sie denn überhaupt hätte verregnet werden können, wo sie sich doch täglich die Live-Schaltung aufs SF-Dach anschaue. Und bevor ihr Blick zu einem jener Sorte wird, die töten können, gebe ich noch einen drauf und bohre nach, ob ihr denn der Bucheli beim Abtrocknen geholfen oder ob er ihr wenigstens zum Abtrocknen geraten hätte.

Die Stirn in Falten gelegt, versteht sie nun einen Moment lang gar nichts mehr. Doch dann erhellt sich ihre Miene. «Sie meinen, das bringt alles gar nichts?» «Ecco!», gebe ich ihr ausrufend und mit hochgezogenen Augenbrauen in einer mir ansonsten unbekannten Sprache zur Antwort.

«Hören Sie nicht immer auf die Anderen, hören Sie auf sich selbst und Sie werden automatisch das Richtige tun. Im Übrigen – Regenwetter kann auch förderlich sein, wie zum Beispiel beim Fischen…»

In dem Moment klingelt in der Augenreiberei das Handy, was mir die Gelegenheit gibt, mich mit einem Wink zu verabschieden und die Türe hinter mir zu schliessen.

Frau Habermacher macht sich indes auf den Weg zur Post, die Rechnung der Billag in der Handtasche, und denkt darüber nach, wie ich das denn mit dem förderlichen Regenwetter gemeint hatte…

 

Der erste Teil dieses Textes entstand bereits anfangs April, blieb bis anhin aber in der virtuellen Mottenkiste. Aufgrund eines Kommentars von Frau Zappadong im Laufe einer engagierten Diskussion mit Thinkabout in der Beiz 2.0 wurde er wieder hervorgeholt und mit den aktuellen Ereignissen erweitert/angepasst.

12 Antworten auf „Vorhersagen“

  1. Vielen Dank Euch beiden.

    Es ist mal was anderes, aber auch ganz spannende Form, so zu schreiben.

  2. Ich habe zu danken, denn ohne Deinen Kommentar hätte ich gar nicht erst in der Mottenkiste zu wühlen begonnen… 🙂

  3. Das war nun Lesegenuss pur.

    Ein grosses Danke und ein noch grösseres Kompliment an Dich, Titus.

  4. Herrlich. Eine Posse, nein eine Glosse, ach, egal wie man dem sagt, ein wunderbares Stück aktueller Allgemeinbildung verpackt in einem satirischen Bühnenstück.

    «Schauen Sie, das ist etwa so wie wenn sich dunkle Wolken am Horizont zeigen und der Regenschirm noch nicht erfunden worden wäre. Ob die Wolken tatsächlich Regen bringen und wie viel Regen es geben wird, wissen wir nicht. Und wie Sie sich davor wirkungsvoll schützen können ohne nass zu werden, ist auch ungewiss.»

    Hat das irgendwann mal jemand besser erklärt?
    Chapeau, Titus!

  5. Vielen Dank Euch beiden, Ate und Bobsmile.

    Solange ich mit der Posse nicht in der Gosse lande, ist es mir auch egal, wenn es eine Glosse ist 😉

    Ich werd‘ wohl noch des Öfteren von der Frau Habermacher berichten müssen…

  6. Eine hübsche Allegorie!
    Nur: Das Wetter können wir nicht beeinflussen. Aber die Finanzkatastrophe ist menschengemacht. Das sollten wir auch nicht vergessen…

  7. …was auch nicht ausschliesst, trotzdem mehr auf sich statt immer nur auf andere zu hören…

  8. Klasse.
    Auch wenn mich die Augenreiberei erst nervös gemacht hat. So wegen der Schweine und weil der Regenschirm ja noch nicht erfunden ist. Aber das macht nichts. Weil, wenn es dann regnet, dann fällt das meiste sowieso daneben.

    Ich freu mich, beim Blick aus dem Fenster dieses Blog entdeckt zu haben. Davon bitte mehr.

    die Frau Rauscher

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