Es war einmal… eine Welt, in welcher jede und jeder eigenständiger war als heute. Das erforderte viel von jedem Einzelnen, mussten doch alle alles können. Dafür war die Abhängigkeit von den Anderen viel kleiner…
Die (etwas andere) Geschichte zum Sonntag
Die Kundin vor mir ist soeben mit dem Bezahlen ihres Einkaufs fertig, sodass nun ich an der Reihe bin. Da höre ich hinter mir das Näherkommen eines metallischen Schepperns. Da meine Unterstützung fürs Einscannen meiner Artikel nicht erforderlich ist drehe ich mich um, um nach diesem merkwürdigen, immer lauter werdenden Geräusch zu schauen.
Da erblicke ich Sie, Frau Habermacher, Hausfrau, Mutter und Nachbarin zur Augenreiberei, wie sie versucht, gleich drei voll gefüllte Einkaufswagen in Richtung Kasse vor sich her zu bewegen – natürlich genau in Richtung «meiner» Kasse.
Dass das bei nur zwei Händen und immer wieder störrischen Wagenrädchen, welche sich gelegentlich querstellen, nicht so einfach ist, versteht sich von selbst. Tumultartige Szenen sind die Folge, insbesondere dann, wenn sie dabei Regale, andere Einkaufswagen oder Personen anstösst…
Am Ziel angekommen, das heisst, an «meiner» Kasse nun hinter mir stehend, grüsse ich Sie wie immer freundlich: «Guten Tag Frau Habermacher».
Noch völlig ausser Atem hebt sie kurz ihre rechte Hand zu einem Wink, gefolgt von einem gezwungenen Ein-Sekunden-alles-halb-so-schlimm-Lächeln. Ihre Hand wandert sogleich zur Stirn, wo sie sich den Alles-halb-so-schlimm-Schweiss abwischt.
«Was haben denn Sie vor?», frage ich sie und deute mit meinem Kopf auf ihre drei voll gefüllten Einkaufswagen. «Bricht denn bald der Krieg aus?», schiebe ich spasseshalber nach.
«Genau!», folgt sofort mit einem energischen Kopfnicken und einer so ernsten Miene ihre Antwort, als ob sie es ernst meint.
Inzwischen hat es etwas Platz auf dem Laufband gegeben, sodass sie nun beginnt, erste Artikel darauf zu platzieren. Wie sie denn darauf komme, dass der Krieg bald ausbreche, will ich natürlich von ihr wissen.
«Sehen Sie denn die Anzeichen dafür nicht?», fragt sie zurück. Ich überlege einen Moment, bevor es dann an mir ist zurückzufragen: «Welche Anzeichen denn?»
Auf ihre typische Art deutet sie mir nun mit ihrem rechten, knorrigen Zeigefinger an, ich solle mich ihr nähern. Ich unterbreche das Einpacken meiner Sachen und nähere mich Ihr, sodass sie mir dann ins Ohr flüstern kann: «Haben Sie denn die Sendungen ‚Alpenfestung – Leben im Reduit’ nicht gesehen?».
Nun mache ich einen Schritt zurück und erwidere in normaler Lautstärke, diese Sendungen ansatzweise gesehen zu haben. Ohnehin sei das ja nur eine Sendung, ein «Living History»-Projekt, nicht mehr und nicht weniger. Deswegen breche der Krieg doch nicht aus.
Derweil sind meine Artikel vollständig eingescannt, sodass ich nun vorne am Laufband ihre Artikel erblicke, insbesondere die vier Säcke à zweieinhalb Kilogramm Kartoffeln. Da bleiben keine Zweifel offen, dass sie diese Sendung gesehen hatte…
«Nein», widerspricht sie mir mit Bestimmtheit, «das ist nicht das einzige Anzeichen». Mit gespielt ernstem Gesichtsausdruck will ich nun von ihr wissen, ob’s denn noch mehr gibt, was sie sogleich mit einem stummen Kopfnicken beantwortet.
Soeben wieder vor der Kassiererin stehend um meine Sachen bezahlen zu können, flüstert sie mir nochmals ins Ohr: «All die Pandemie-Vorbereitungen gehören auch dazu».
Unterdessen meine Maestro-Karte ins Lesegerät geschoben, hätte ich mich beinahe beim Eingeben des PIN vertippt, als sie mir dies zur Antwort gab. Ich drehe meinen Kopf zu ihr, schaue sie mit einem Stirnrunzeln ungläubig an und drücke gleichzeitig den bereits positionierten Zeigefinger auf die grüne «OK»-Taste.
Meinen Blick interpretierend schiebt sie flüsternd die Erklärung nach: «Die bereiten uns psychologisch auf den Krieg vor». Die Kassiererin drückt mir den Kassenzettel in die Hand und macht sich nun an die vier Säcke Kartoffeln, gefolgt von den Atemschutzmasken…
«Die wollen uns zeigen, wie wir uns im Notfall zu schützen haben, wie wir uns zu ernähren haben und wie wir zu mehr Selbstversorger werden», flüstert sie mich weiter an, währenddem auf dem Laufband geschätzte 15 Büchsen Ravioli an uns vorbeiziehen. Ihre Erklärung ist – wie immer – verblüffend.
«Darum haben sie gestern auch ihre prächtig blühenden Geranien vom Balkon genommen?», frage ich sie. Wieder ein Kopfnicken, gefolgt von einer verbalen Bestätigung meiner Vermutung: «Die Blumenrabatte brauche ich zum Anpflanzen. Mehr Selbstversorger, Sie wissen schon…».
Vor meinem geistigen Auge sehe ich schon, wie da bald Kartoffelkraut statt Geranien ihren Balkon schmücken. Derweil höre ich etwa ein Duzend mal den Bestätigungston der Kasse fürs Einscannen der vakuumierten Fertig-Rösti…
Währenddem ich das Einpacke abschliesse, tischt Frau Habermacher weitere Artikel auf dem Laufband auf. Es folgen Spaghettis, andere Teigwaren, in Öl eingelegte Tomaten…
Beim Anblick dieser Massen auf dem Laufband drängt es mich dazu, Frau Habermachers Weltbild wieder etwas zurechtzurücken. «Die beiden ‚Anzeichen’ haben doch nichts miteinander zu tun und treten ohnehin rein zufällig zur gleichen Zeit auf», versuche ich es.
Ziemlich resolut widerspricht sie mir mit einem «Nein, nein, nein!» Andere sähen das auch so. «Oder warum glauben Sie, fordert die BDP, dass wir wieder zu 60 Prozent Selbstversorger werden?»
«Zudem», fährt sie weiter, nun je zwei Gläser Konfitüre in jeder Hand, «haben die ja auch recht», und stellt die Gläser aufs Laufband. «Dieser Aff im Gaden* – obschon er angeblich in Zelten hausen soll…» «Sie meinen Gaddafi?», unterbreche ich sie. «Genau. Dieser, dieser… eben dieser… hat uns ja auch schon das Öl abgedreht. Höchste Zeit also, wieder unabhängiger zu werden», schliesst sie ihre Argumentation ab.
Die Konfitüre hat inzwischen die Kassiererin passiert, welche mich ziemlich ungläubig ansieht, da sie unser Gespräch unweigerlich auch mitbekommt. Es folgt das Frittieröl, passend zu den Kartoffeln, denke ich für mich…
«Und wo wird denn Ihr Reduit sein? In ihrem Luftschutzkeller sollte nun ja ein Tresor mit geheimen Bundesratsakten – oder 50 Riesen – stehen», erinnere ich mich an unser letztes Gespräch.
«Psssst», zischt sie mich nun an, «das muss doch nicht gleich jeder wissen», ergänzt sie leicht errötet. «Und überhaupt: Wie ich Ihnen sagte, ist das ein sehr kleiner Tresor». «Ach ja, stimmt. Ein kleiner und nicht wasserdichter Tresor», tue ich nun so, wie ich mich wieder daran erinnere. Nun erröten auch ihre Ohren, vermutlich weil sie noch keine Lösung fürs Grundwasser-Problem gefunden hat…
Um ihrer Verlegenheit zu entweichen, wechselt sie das Thema, wenn auch nur marginal: «Also ich wäre ja dafür, dass dieser Kadi Mettler zum General ernannt wird. Der hatte doch die Zügel ganz ordentlich in der Hand, gälled Si**?» Dem erwidere ich: «Ich wäre ja eher für Bundespräsident Merz.»
Es geht nicht lange, bis Frau Habermacher nachfragt, warum denn er meiner Ansicht nach geeignet wäre, da er sich ja im Reduit nicht hätte bewähren können. Offensichtlich scheint sie diese Reduit-Saga auch gleich noch als General-Casting verstanden zu haben… «Nun», beginne ich, «in den letzten Tagen hat er ja bewiesen, dass er keine Zustimmung des Gesamtbundesrats braucht, um ‚führungstark’ auftreten zu können…»
Währenddem nun die Büchsen mit Erbsen und Karotten gescannt werden und sie meinen Vorschlag am Überdenken ist, lanciere ich einen neuen Versuch, ihr Weltbild wieder etwas zurechtzurücken.
«Kennen Sie ‚E.T – der Ausserirdische’? Oder ‚Star Wars’? Oder ‚Star Trek’? Oder die ‚X-Files’?» Passend zu diesen kunterbunten Sciencefiction-Filmen entnimmt sie jetzt die letzten Artikel ihres ersten Einkaufswagens: Kunterbunte Bonbons.
Völlig überrascht über den für sie plötzlichen Themenwechsel schaut sie mich an. «Natürlich kenne ich diese Filme. Mein Sohnemann schaut sich solches Zeugs ja ständig an», gibt sie von sich, bevor sie unsicher darüber, worauf ich hinaus will, nachfragt, was die Frage soll.
Ich packe meinen Rucksack auf die Schultern, bevor ich mich wieder ihr zuwende und vollen Ernstes erkläre: «Nun, mit diesen Filmen hat uns Hollywood ja auch psychologisch auf Ausserirdische vorbereitet – und gekommen sind sie trotzdem nicht.»
Mit versteinertem Blick nimmt sie knapp meinen Abschiedswink zur Kenntnis, währenddem die Kassiererin ungeduldig auf weitere Artikel wartet, da die Bonbons inzwischen alle durch sind…