Libyen-Affäre: Was sind eigentlich die «Interessen der Schweiz»?

Nach wie vor beschäftigt die Schweiz die so genannte «Libyen-Affäre». In der Augenreiberei fragt man sich derweil, ob «man» sich diesbezüglich wirklich mit den richtigen Aspekten dieser Affäre auseinandersetzt…

Zur «Einstimmung» ins Thema (oder zur Erinnerung) der folgende, etwas längere «10vor10»-Beitrag vom 2. September 2009 des Schweizer Fernsehens:

Auch die Sendung davor, die «Rundschau», beschäftigte sich in insgesamt sechs Beiträgen mit dem Thema.

Daraus seien zwei Aspekte festgehalten:

  • Bundesrätin Micheline Calmy-Rey sprach davon, dass es «im Interesse der Schweiz» liege, den Vertrag mit Libyen zu erfüllen.
  • Aber keiner der fraglichen Beiträge beschäftigte sich mit diesen Interessen der Schweiz. Vielmehr lässt man sich von formellen Aspekten wie «dünnen Communiqués» oder möglichen Querellen innerhalb des Bundesrats ablenken.

Gewiss, es geht angeblich – wie man verschiedentlich und halbwegs unter vorgehaltener Hand hört – um libysches Erdöl. Und um die zwei festgehaltenen Schweizer.

Doch greifen wir zum ersten Punkt etwas ins Archiv des Schweizer Fernsehens (Tagesschau-Beitrag vom 9. Oktober 2008):

 

Demzufolge schadet sich Libyen selbst, wenn sie ihre eigene Raffinerie im Walliser Collombey boykottieren, wie dies im Oktober letzten Jahres bereits geschah. Nach firmeneigenen Angaben produziert Tamoil ungefähr 19 % des Schweizer Bedarfs an Erdölprodukten. Dies verteilt sich auf unterschiedliche Produkte (Heizöl, Benzin usw.).

Libysches Erdöl: Ein zwingendes Schweizer Interesse?

19 % ist zwar nicht wenig und doch kann man sich fragen, ob denn diese 19 % nicht auch anderweitig beschafft werden könnten, um so ein Desinteresse an beziehungsweise eine Unabhängigkeit von libyschem Erdöl zu generieren. Dem Beitrag oben konnte die Botschaft entnommen werden, dass vor bald einem Jahr ohnehin kein Engpass gedroht und dass man sich allenfalls nach anderen Lieferanten umgeschaut hätte.

Käme es im Rahmen dieser «diplomatischen Krise» erneuten zu einem Lieferstopp, dann würde die Schweiz ihr Erdöl andernorts beziehen (zum Beispiel aus Algerien), Libyen würde mehr seines schwarzen Goldes in andere Länder wie zum Beispiel Italien oder Frankreich verkaufen (wollen) und diese anderen Länder würden andernorts weniger einkaufen. Alles in allem gäbe es, vereinfacht ausgedrückt, eine Umverteilung der Abnahmemengen je nach Herkunftsland.

Hierzu ist es auch interessant zu wissen, dass in der zweiten Schweizer Raffinerie im neuenburgischen Cressier, welche dem unabhängigen Konzern Petroplus gehört, nach firmeneigenen Angaben etwa 25% des Gesamtvolumens aller in der Schweiz verkauften Raffinerieprodukte hergestellt werden.

Folglich wird bereits heute über die Hälfte der hierzulande benötigten Erdölprodukte nicht in der Schweiz produziert, sondern muss vom Ausland importiert werden.

Würde Libyen erneut und definitiv der Schweiz den Ölhahn zudrehen wollen, dann wäre Petroplus wahrscheinlich eine dankbare Abnehmerin der Raffinerie in Collombey…

Ob diesen Aspekten fragt es sich, wie abhängig wir wirklich von libyschem Öl sind. In der Augenreiberei hat man grosse Zweifel darüber, ob diese Lieferungen tatsächlich ein hauptsächlicher Grund für die «Interessen der Schweiz» sind.

Festgehaltene Schweizer: Ein echtes Schweizer Interesse!

Inzwischen können wir von verschiedenen «Experten» vernehmen, dass die beiden festgehaltenen Schweizer spätestens in 60 Tagen, also nach Abschluss des Schiedsgerichts, freigelassen würden. Hier haben wir ja wirklich ein Schweizer Interesse, dass diese frei kommen.

Nur – Libyen nimmt es bekanntlich nicht so genau. Das zeigt sich auch darin, dass der Vorwurf bezüglich Visa-Vergehen gegenüber den beiden Schweizern erst vor einigen Tagen zum ersten Mal vernommen werden konnte – also nachdem diese vorher schon über 400 Tage ohne Anschuldigung festgehalten wurden. Auch die Ernennung einer Schiedsgerichtsperson von libyscher Seite her erfolgte mit Verspätung.

Das heisst im Klartext: Ob die beiden Schweizer nach diesen zusätzlichen 60 Tagen tatsächlich frei kommen, ist auch nicht sicher. Man bedenke hierzu auch: Wie wird Libyen reagieren, wenn das Urteil des Schiedsgerichts zu Ungunsten Libyens ausfällt? Dies wäre aus libyscher Sicht gewiss eine weitere Demütigung, was für die beiden Festgehaltenen sicherlich nicht förderlich wäre.

Einer der beiden Festgehaltenen ist bekanntlich ein ABB-Mitarbeiter. Diesbezüglich hat man in der Augenreiberei nichts darüber vernommen, was dieser in Libyen geschäftlich suchte und vor allem – ob die ABB zwischenzeitlich irgendwelche Güter nach Libyen exportierte.

Beinhalten diese «Schweizer Interessen» vielleicht auch, dass unter anderem ein womöglich versprochener Milliarden-Auftrag an die ABB in Libyen ausgeführt werden kann? Falls ja, dann hatte der Kniefall vor Libyen einen sehr hohen (politischen) Preis…

Noch andere, bewusst ungenannte Interessen?

Im Rahmen der jüngsten Berichterstattung wurde einmal mehr der Charakter von Gaddafi beschrieben: Unberechenbar, exzentrisch, chaotisch, willkürlich, nicht vertrauenswürdig usw.

Zudem bekommen wir seitens Gaddafi-Familie Äusserungen und Vorstösse zu hören, welche doch gar abstrakt klingen (siehe den «10vor10»-Beitrag oben). Da ist die Rede von Bombardierung der Schweiz, vom Fallenlassen einer Atombombe über der Schweiz oder von der Aufteilung der Schweiz auf die Nachbarländer.

Diesen Mann kann man nicht ernst nehmen und müsste man einmal tüchtig übers Knie legen, so unsere Schlussfolgerung aufgrund der Charakterzüge und Äusserungen der beiden betroffenen Gaddafi-Familienmitglieder.

Doch geht dabei vergessen, dass dieser Clan in der Vergangenheit nicht nur verbal mit den Säbeln rasselte, sondern angeblich auch an verschiedenen Terrorakten (indirekt) beteiligt war (Lockerbie, Anschläge in den USA zur Reagan-Zeit). Gaddafi selbst ist in jedem Fall kein Unschuldslamm. Anders lässt es sich nicht erklären, dass er seit 40 Jahren an der Macht ist.

Deshalb, und gerade auch aufgrund der Unberechenbarkeit von Gaddafi, fragt man sich in der Augenreiberei, ob diese «Interessen der Schweiz» nicht auch – oder vor allem – Interessen der eigenen Sicherheit sind…

Es würde die plötzliche Eile und manchen wortkargen Bundesratsauftritt inklusive dessen personelle Besetzung erklären, wenn dem so wäre.

3 Antworten auf „Libyen-Affäre: Was sind eigentlich die «Interessen der Schweiz»?“

  1. Eigentlich traurig, aber wahr: Hol den Feind ins Boot, dann hast du ihn besser unter Kontrolle.
    Wobei ich diese These eher für die UNO gelten lasse, da die Schweiz wohl eher wirtschaftliche Interessen verfolgt, so hat sich der Libysche Despot auch zwei aus der Geschäftswelt eingesackt.

  2. Holt man mit einem Kniefall den Feind ins Boot und kontrolliert man ihn dadurch besser? Wohl kaum.

    Welches Interesse rechtfertigt diesen Kniefall?

    Nochmals: Ich glaube nicht, dass es das Erdöl ist. Vier von fünf Tankstellen oder Heizöl-Lieferanten werden nicht von der Collombey-Raffinerie beliefert. Es gibt somit immer noch ziemlich viele Alternativen. Diese anderen, alternativen Lieferanten nehmen doch mit Handkuss neue Kunden in Empfang. Dafür hätte es kein Muss für einen Kniefall gebraucht. Wir sind zudem ein sehr mobiles Volk, weshalb es wohl sehr kontraproduktiv für Libyen wäre, in Zukunft auf den Schweizer Markt zu verzichten.

    Das Geld, von dem ich oben gar nicht geschrieben habe, war es übrigens auch nicht. Dieses soll Gaddafi ja bereits schon früher abgezogen haben.

    Vordergründig bleiben einzig die beiden festgehaltenen Schweizer. Was mich daran stört, ist diese Aktion mit dem entsprechenden Aufwand. Reist Merz beim nächsten festgehaltenen Schweizer in China, Nordkorea, Kuba usw. auch in diese Länder? Kann es wirklich sein, dass ein Mann, der es bis zum Bundespräsident geschafft hat, so naiv ist und glaubt, ohne weitere Folgen nach Cäsars Motto veni vidi vici die beiden nach Hause zu bringen?

    Wenn man nicht an seine Naivität glauben will, dann muss dahinter doch noch mehr stecken, wie angedeutet z. B. die Bedrohung der inneren Sicherheit (ein tollkühner, ungewöhnlicher Gedanke, ich weiss).

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