Heute vor 20 Jahren fiel die Berliner Mauer. Hinter diesem Mauerfall stecken mehr als nur das Abbrechen von Betonwänden und das Entfernen von Backsteinen. Einige allgemeine Gedanken zu Mauern, deren Aufbau und deren Abbruch.
Für die Ostdeutschen war der Mauerfall zu Berlin – und schliesslich auch entlang der deutsch-deutschen Grenze – eine Befreiung.
Dass dem so war, hat mit einer der beiden Funktionen von Mauern zu tun: Sie grenzen ab. Doch gleichzeitig schützen sie auch. Nie nehmen Mauern nur eine der beiden Funktionen ein. Allenfalls werden diese Funktionen nur unterschiedlich bewertet.
Mauern sind überall
Aus Sicht der meisten Ostdeutschen grenzte die Mauer mehr ab und wurde als Gefängnis gewertet. Die Staatsführung der damaligen DDR betrachtete sie hingegen vielmehr als Schutz: Schutz vor dem kapitalistischen Westen, Schutz fürs eigene System, Schutz vor dem Davonlaufen der eigenen Bürger…
Wir sind alle betroffen von Mauern und deren Doppelfunktion. Dabei müssen nicht immer politische oder wirtschaftliche Aspekte der Existenzgrund dieser Mauern sein. Jeder kann die Mauern seiner Wohnung oder seines Hauses nehmen um sich des schützenden, aber auch des abgrenzenden Charakters von Mauern bewusst zu werden.
Mit der Abgrenzung schaffen Mauern auch Ordnung im Raum. Das Badezimmer endet irgendwo. Ein Duschen im Wohnzimmer wird dadurch unmöglich 🙂 . Mauern können aber auch Geborgenheit und Intimität schaffen, man denke dabei nur ans Schlafzimmer oder die Toilette.
Auch da, wo sonst keine sind
Mauern müssen aber nicht immer Mauern sein, die ganz abschotten. Mit Gittern und Zäunen wird ebenso abgegrenzt und geschützt. So bleiben die Löwen des Zoos in ihrem Gehege. Und zwischen Nachbarn ist eindeutig, wer bis wohin den Rasen zu mähen hat.
Daneben gibt es auch noch die «temporären» Mauern wie Türen, Tore, Rollläden oder Vorhänge. Letztere schützen primär vor neugierigen Blicken, können aber auch vor der dunklen Nacht abgrenzen.
Auch Zelte und – selbst bei Übernachtungen unter freiem Himmel – der Schlafsack können gewissermassen als Mauern angesehen werden, denn sie schützen und grenzen zur freien Natur ab.
Sicherheitskräfte wie Polizei oder Armee kann man wiederum als temporäre, flexible Mauern betrachten. Sie schützen und grenzen situativ Territorien und Objekte ab und bauen um diese einen Schutzschild auf.
Unsichtbar, aber nicht unbedeutende Mauern
Und schliesslich gibt es noch die Mauern, die man nicht sieht. Sie stecken in unseren Köpfen. Manche von ihnen dienen auch zum Schutz, zum Selbstschutz. Das Motto lautet dann: Bis hierhin und nicht weiter. Oder: Das mache ich oder das geht mir zu weit.
Jeder legt für sich selber die Grenze dieser Mauern fest. Manche entstehen erst im Laufe der Zeit, währenddem andere gleichzeitig abgebaut werden.
Einige dieser unsichtbaren Mauern dienen nicht nur zum Schutz, sondern auch zur Abgrenzung und zwar zur Abgrenzung vor den Anderen. Es kann gut und richtig sein, sich von anderen abzugrenzen, insbesondere wenn es um extremistische Positionen geht. Sich vor anderen abzugrenzen kann jedoch auch als mutlos oder feige verstanden werden.
Unterschiedliche Motivation
Alle Gründe, die – im übertragenen Sinne – für eine Mauer sprechen, können je nach Situation auch gegen eine Mauer sprechen.
Eine Mauer rund um West-Berlin zu bauen kann mutlos sein. Da glaubten wohl einige nicht so richtig ans eigene System und konnten oder wollten die Konfrontation mit dem anderen System nicht eingehen.
Sich auf etwas nicht einzulassen, gegenteiliger Meinung zu sein und hier eine Mauer zur Abgrenzung vor den Anderen aufzubauen, kann wiederum mutig sein.
Was Mauern tatsächlich bewirken, liegt schliesslich wohl immer im Auge des Betrachters. Schützen sie mehr oder grenzen sie mehr ab? Was von beidem überwiegt?
Selbst bei eher unumstrittenen Mauern wie Stützmauern oder Schutzzäunen vor Steinschlägen kann man sich fragen, ob sie mehr schützen – oder uns nicht einfach nur vor der unberechenbaren Natur abgrenzen sollen.
Unverzichtbar seit jeher
Mauern sind nicht eine neuartige Erscheinung, nur weil unser Platzbedarf immer grösser wird, jedoch nicht mehr Fläche zur Verfügung steht und wir uns deshalb zunehmend von den Anderen abgrenzen und schützen wollen. Alte Stadtmauern erinnern daran, dass es solche schon vor Jahrhunderten gab, als der Begriff «Raumplanung» noch ein Fremdwort war.
Selbst wenn wir uns den Menschen vor Jahrtausenden vorstellen, hatte dieser ein Bedürfnis nach Mauern, wenn auch nicht im Sinne der heutigen Mauern, sondern eher im Sinne von natürlichen Unterständen oder Höhlen.
Der heutige «westliche» Mensch kann ohne Mauern kaum mehr leben. Im schützenden Sinne kann er ohne sie ohnehin nicht mehr überleben, er würde wohl erfrieren… Und im abgrenzenden Sinne sind sie zu einem festen Bestandteil unserer Gesellschaftsordnung geworden.
Mit den beiden Funktionen des Schützens und des Abgrenzens wird mit Mauern vor allem ein Ziel verfolgt: Sicherheit zu gewährleisten.
Deutlich wird dies beispielsweise mit den besagten Stadtmauern. Sie sicherten nicht nur die Bevölkerung vor Angriffen Dritter, sondern auch die Vorräte dieser Bevölkerung.
Wenn «Mauern» fallen…
Diese alten Mauern machen jedoch auch deutlich, dass sie nicht ewig ihre Funktion erfüllen müssen. Keinem kommt es heute noch in den Sinn, um eine Stadt oder um ein Dorf herum eine Mauer zu bauen.
Das zeigt, dass wir ständig gefordert sind, bestehende Mauern – sichtbare und unsichtbare – zu hinterfragen, einschliesslich der Wertung bezüglich Abgrenzung und Schutz und was von beidem schwerer wiegt oder schwerer wiegen soll.
Mauern sind nie für die Ewigkeit gebaut und fallen oder stürzen schon einmal in sich ein. Dadurch entsteht Platz für etwas Neues oder etwas noch Grösseres. Diesem Moment gilt es besondere Beachtung zu schenken, denn das Bedürfnis nach Sicherheit ist ebenso tief in uns verankert wie das Wissen, dass Mauern Sicherheit geben.
Wenn somit Mauern fallen, haben wir acht darauf zu geben, wo neue Mauern entstehen, denn sie entstehend in jedem Fall.
Doch es ist ein Unterschied, ob sie an einem neuen, ungewollt Ort entstehen oder ob sie bewusst an einem bestimmten Ort neu hochgezogen werden. Ersteres nennt man «den Dingen freien Lauf lassen», Letzteres nennt man «Politik».
Ja, die physische Mauer ist gefallen, doch die soziale Mauer ist geblieben.
Es müssen nicht immer Mauern sein, manchmal reicht auch schon ein Brett vor dem Kopf um sich in der „Masch’ndrohtzääun“ – Nostalgie zu verheddern. Nach 20 Jahren Mauerfall herrscht erneut grosse Unzufriedenheit, diesmal mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem. Was fällt also als nächstes?
Besten Dank für Eure Kommentare.
Was als nächstes fällt, fragst Du, Bobsmile. Ich würde sagen: Das Bankgeheimnis 🙂
Wie Chris erwähnte, sehe ich auch eine grosse Herausforderung im sozialen Bereich, aber auch generell im «Werte-Bereich». Ich meine das generell, also uns alle betreffend und nicht etwa nur auf die sozial Schwächsten bezogen. Das System nach der ständigen Mehrung des Materiellen scheint mir auf Dauer (wenn ich an Jahrhunderte denke) keine Zukunft zu haben.
Denn bei diesem wird es ständig «Korrekturen» brauchen, damit die grosse Masse an Konsumenten es auch weiterhin vermag, zu konsumieren. Dabei frage ich mich (weiterhin), ob das wirklich das Ziel ist: Chrampfe um Geld in den Händen zu haben, um es wieder ausgeben zu können?
Eigentlich sollten wir den Fokus aufs Wohlergehen legen (was die Gesundheit an sich miteinschliesst). Stellt Euch die Utopie vor, wir wären alle Milliardäre. Was nützen uns all die Milliarden, wenn man todkrank ist?
Wir sollten idealerweise einen Stand erreichen, wo wir Arbeit als Freizeitbeschäftigung betrachten. Aber eben: Das ist eine (heute noch utopische) Idealvorstellung. Jeder Schritt dahin, Arbeit nicht als Pflicht, sondern frei-willig zu betrachten, erachte ich als Fortschritt (das sollten auch wirtschaftsorientierte Kräfte als Vorteil sehen). Auf diesem Weg gibt es viele Mauern und Mäuerchen einzureissen…