Anonyme Gesellschaft

Wir leben in einer personifizierten Gesellschaft. Aber nur oberflächlich. Gräbt man etwas tiefer, ist jeder von uns zunehmend nur eine Nummer. Nicht mehr, nicht weniger.

Na, haben Sie diese Woche auch Post bekommen, in welcher man Sie mit «Sehr geehrter Herr X» oder «Sehr geehrte Frau Y» begrüsst? Ist doch nett, wie Sie da so ganz persönlich angesprochen werden, nicht wahr?

Selbst bei Mahnungen, häufig mit dem freundlicheren «Erinnerung» betitelt, wird man persönlich und mit einer etwas heuchlerischen Sprache angesprochen: «Bestimmt ist es Ihnen entgangen, lieber Herr Soundsowieso, dass der nachstehende Betrag usw…». Den Rest können Sie sich denken.

Alles ganz «normal»

Das ist heute üblich, das ist heute Standard. Und das kann heute auch jeder, der Funktion «Serienbriefe» irgendeines Textverarbeitungsprogramms sei dank.

Diese so genannte Personifizierung hat jedoch spätestens dann ein Ende, wenn Sie beispielsweise beim Rechnungssteller anrufen. Bereits mit der ersten Fragen gibt man Ihnen zu verstehen: Sie sind nur eine Nummer!

Sie kennen diese erste Frage ganz bestimmt: «Hätten Sie mir Ihre Kundennummer?» Nicht Ihr Name interessiert, nein, Ihre Kundennummer. Das geschieht natürlich auch in Ihrem Interesse, erspart es Ihnen doch das Buchstabieren Ihres Namens…

Auch die Leistung an sich ist nur noch eine Nummer, eine Artikelnummer oder eine Position auf der Rechnung, versehen mit einer Nummer. Zusammengefasst werden diese Leistungen unter einer Rechnungsnummer.

Sie, Herr X oder Frau Y, haben nicht eine Leistung bezogen, für welche man Rechnung stellte. Nein, die Kundennummer 123 hat eine Artikelnummer 456 bezogen, welche in einer Rechnungsnummer 789 resultiert.

Auch das gibt man ihnen deutlich zu verstehen, wenn Sie anrufen. Die Person am anderen Ende der Leitung, übrigens auch nur eine Nummer, kennt Sie nicht, kennt manchmal nicht einmal die hinter einer Nummer versteckten Leistungen und kennt erst recht nicht die fragliche Rechnung, weil sie sie nicht selber erstellt hat. Der «Computer» war das, und der ist auch schuld, wenn die Rechnung nicht stimmt.

Noch mehr Nummern

Doch auch der Rechnungssteller ist nur eine Nummer. Eine Telefonnummer. Häufig ist es eine Gratis-Nummer. Immerhin. Das nimmt schon mal den Wind aus den Segeln, wenn es einem zu lange dauert beim «Durchnummerieren».

Denn damit Sie Ihr Anliegen vortragen können, müssen Sie sich mit weitere Nummern durchschlagen: «Für deutsch, wählen Sie die Taste 1; für französisch die Taste 2; für …». Im gleichen Stil geht es weiter: «Zu Fragen bezüglich Ihrer Rechnung, wählen Sie die Taste 1; zu Fragen bezüglich unseren Dienstleistungen, wählen Sie die Taste 2; zu Fragen bezüglich…».

Es kann auch sein, dass diese Organisation Nummer noch Unterabteilungen Unternummern hat. Darum, Sie ahnen es, geht es weiter mit Nummern: «Damit wir Sie mit dem richtigen Callcenter verbinden können, geben Sie bitte Ihre vierstellige Postleitzahl ein und schliessen mit der Raute-Taste ab». Eigentlich ist es dem Anrufenden egal, mit welchem Callcenter er verbunden wird. Er hat nur eine Frage zu einer Rechnung.

Es ist auch gut möglich, dass Sie bitte schön auch Ihre Kundennummer, Telefonnummer, Rechnungsnummer, irgendeine-Nummer noch eingeben sollen, obschon man sie anschliessend nochmals danach fragt… Der Möglichkeiten, Sie nach irgendeiner Nummer zu fragen, sind keine Grenzen gesetzt.

Wie ging das doch gleich? Ach ja: «Sehr geehrter Herr X», «Sehr geehrte Frau Y».

Sie sind anders

Nummern sind neutral und haben etwas Anonymes. Sie garantieren zwar grundsätzlich eine Gleichbehandlung. Und doch wollen wir nicht einfach gleich behandelt werden, schliesslich sind wir alle anders.

Unser soziales Umfeld ist anders, unsere Vergangenheit ist anders, unser äusseres Auftreten ist anders, unsere innere Einstellung ist anders, unsere Körper sind anders, unsere Schulbildung ist anders, unsere Sprache ist anders, unsere Interessen sind anders, unsere Empfindungen sind anders, usw… Wir sind nicht bloss eine Nummer.

Wir haben uns inzwischen (unbewusst) daran gewöhnt, dass nicht mehr Personen und Sachen zählen, sondern Nummern. Sie sind auch Ausdruck einer zunehmend digitalen Welt, welche ohne Nummern schlichtweg nicht funktionieren würde.

Dass wir nicht bloss Nummern sind, wissen auch die, welche solche Nummern (ein)führen. Darum wollen diese auch immer mehr über uns wissen. Die zahlreichen Kundenkarten dienen nicht nur der Kundenbindung, sondern auch dazu, mehr über uns, die anonymen Nummern, zu erfahren. So können die Nummernbetreiber «noch kundengerechter» agieren.

Trotzdem: Die Komplexität des menschlichen Wesens, des menschlichen Willens, der menschlichen und zu Handlungen antreibenden Emotionen kann man nicht in ein nummernorientiertes Informatiksystem drücken.

Die Folgen des «Nummern-Seins»

Auch wenn sich viele der Zusammenhänge «im Hintergrund» nicht bewusst sind, diese auch nicht immer begreifbar sind, wissen wir insgeheim doch alle, dass wir auch weiterhin nur eine Nummer sind.

Wo führt uns das hin?

Mindestens die folgenden zwei Entwicklungen könnten die Folge sein:

a) Wir nehmen es mit der Verantwortung nicht mehr so ernst

«Société anonyme» (anonyme Gesellschaft) ist die französische Bezeichnung für Aktiengesellschaft. Das kommt wohl nicht von ungefähr: Wem eine Aktiengesellschaft zu wie vielen Anteilen gehört, kennt in der Regel nur die Aktiengesellschaft selber. Ansonsten bleiben die Eigner nach aussen hin anonym.

Wenn Sie also beispielsweise an der Börse fünf Aktien einer UBS kaufen, dann erfährt darüber die Öffentlichkeit nichts. Anders bei einem Familienunternehmen, welches ebenfalls als Aktiengesellschaft eingetragen ist: Hier ist bekannt, wer der oder die Eigner sind.

Interessant ist hierbei, dass das Verantwortungsbewusstsein ein ganz anderes ist. Sie, als einer von vielen (anonymen) Kleinstaktionären und damit Mitinhaber fühlen sich wahrscheinlich kaum für die UBS verantwortlich. Anders ist es in der Regel bei Familienunternehmen: Da fühlt sich die Besitzerfamilie sehr wohl verantwortlich für ihr Unternehmen – auch auf sozialer Ebene.

Bezüglich Verantwortungsbewusstsein spielt es somit eine Rolle, ob man nur eine von vielen kleinen, unbekannten Nummern ist oder ob man eine bekannte «Grösse» ist, welche mit ihrem Namen für eine Sache steht.

Was hier bei den Besitzverhältnissen eines Unternehmens gilt, kann ganz bestimmt auch auf andere Bereiche übertragen werden. Das heisst: Je mehr wir «nur eine Nummer» sind, desto weniger fühlen wir uns angesprochen, auch Verantwortung zu übernehmen, das Wort zu ergreifen oder sich für eine Sache einzusetzen.

Ist es da verwunderlich, wenn es mit vielen Unternehmen den Bach runter geht oder wenn primär der Verwaltungsrat und die Geschäftsleitung den Ton angeben – und nicht die unbekannte Masse sämtlicher Besitzer?

b) Ich-Trend

Viele von uns suchen nach Anerkennung. Indem wir jedoch nur als Nummer behandelt werden – und weil wir uns dessen auch bewusst sind – bekommen wir diese Anerkennung nicht wie das früher der Fall war.

Die Formen dieser Anerkennung können vielseitig sein. Das kann auch nur schon das zustimmende Kopfnicken der Kassiererin bei einem Schwatz an der Kasse im Lebensmittelladen sein.

Dieses zustimmende Kopfnicken, es bleibt aus. Für einen Schwatz bleibt keine Zeit mehr, sondern nur noch für die Frage nach der Nummer Kundenkarte.

Wenn diese kleinen, oftmals subtilen Formen der Anerkennung ausbleiben, dann muss jeder nach Anerkennung Strebende sich diese Anerkennung eben anderswo holen.

Wir bekommen Sie, indem wir (noch mehr) auf die Karte «Ich» setzen, oder eben indem wir uns «in Szene setzen». Das geht am besten durch persönliches Auffallen: Optisch, visuell, verbal oder wie auch immer.

Dabei erhoffen sich die Anerkennungssuchenden den entsprechenden Applaus. Irgendjemand lässt sich schon finden, der das, was man macht, gut findet, und – selber auf der Suche nach Anerkennung – artig applaudiert.

Dummerweise gibt es viele Anerkennungssuchende, sodass jeder noch eins drauf setzen muss, noch stärker auf den Putz hauen muss, noch mehr auffallen muss, um sich von den Anderen abzuheben.

Und all das, um nicht mehr bloss eine anonyme Nummer zu sein. Da erwartet uns ja eine schöne Zukunft…

Wie leisten wir da Gegensteuer?

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6 Antworten auf „Anonyme Gesellschaft“

  1. Das Thema «Das Individuum als blosse Nummer in der Gesellschaft repräsentiert» hat mich vor Jahren in Augenblicken intensiven Nachdenkens noch erschreckt. Irgendwann fand ich es eher angenehm, mich hinter einer Nummer verstecken zu können, denn für den Bereich Menschlichkeit waren andere Gruppen zuständig: Familie, Freunde, Kollegen etc.

    Im aktiven Wechselspiel dafür zu sorgen, dass der einzelne Mensch in seinem Umfeld nicht vergessen wird, liegt denn zum grossen Teil auch in seiner Verantwortung. In den losen Knoten, die die moderne Gesellschaft ermöglicht, scheint es zum Preis der Freiheit zu gehören, wie er diese private Vernetzung einrichtet und pflegt.

    Meldungen, wonach skelettierte Menschen nach Jahren erst in ihren Wohnungen, in Gebüschen, Schluchten oder Wäldern gefunden werden, ohne dass sie einer je vermisst hätte, zeugt von elender Vereinsamung jener, die eben bloss noch durch Nummern repräsentiert waren. Diese Einsamen besassen in ihrer schwierigsten Zeit kein «Auffangnetz», und Nummern fragen nie danach, wie es denn dem Nummerninhaber denn so gehe …

    Nun, auch Nummern besitzen ihre Tücken, und können für eine Vernetzung sorgen, die nichts zu tun hat mit jener eines «sozialen Netzes», die dem Individuum auch nichts nützen, obwohl das im Hintergrund gesponnene Netz darauf angelegt ist, den einzelnen Menschen möglichst individuell abzubilden.

    Jene, die es darauf abgesehen haben, von Vorratsdatenspeicherung über Kunden- Gesundheits- und Benzinkarten bis zu Steuer-, simplen Bestellungs- und Büchereinkaufsdaten alles zu zentralisieren, nehmen dem Individuum zweifellos einen Teil der o. a. Freiheit und damit seine individuelle Selbstbestimmung.

    So ganz im Geheimen kreieren sie hingegen mit den Nummern als Primärschlüssel zu ihren Datenbanken ein Abbild des jeweiligen Menschen. So wird das aus blossen Nummern repräsentierte Individuum wieder zu einem Menschen geknetet, einer Art Homunculus, der wahrscheinlich die grausigsten Züge trüge, vergliche man ihn mit seinem Original.

    So darf man geruhsam schliessen, die blossen Nummern seien nicht so inhuman, werden sie doch irgendwann, irgendwo, irgendwie von irgendwem zu menschlichen Wesen zusammengesetzt, die das entsprechende Vorbild wie Schatten in jede Ecke der Welt begleiten. Und solange der reale Mensch sein geheimes Konstrukt nicht kennt, bleibt ihm sogar vorenthalten, ob es sich dabei um einen Freund oder einen Feind handelt.

    Zu einem GAU könnte es natürlich kommen, würden realer Mensch und Schatten-Konstrukt verwechselt. Doch davon sind wir weit entfernt, denn wir besitzen alle grosses Vertrauen in unsere Nummerngeber, das wird von uns verlangt, denn Nummern sind exakt, und jene, die mit ihnen spielen dürfen, sind einfach die besseren Menschen.

    Mit herzlichen Grüssen
    156378rzA1lpdrzm–1568784636-9935734153
    oder quantensprung ?
    Sorry hab’s grad vergessen …

  2. Ich habe kein Problem mit Nummern in geschäftlichen Beziehungen. Ob Migros oder AHV. Diese Firmen und auch deren Sachbearbeiter sind nicht meine Freunde, wir sind jedoch freundlich miteinander. Meine Freunde hingegen, die kennen weder meine AHV-Nummer, noch meine Kreditkartennummer. Dafür alle meine Macken und ich ihre.
    Das ist auch gut so!

  3. @ 156378rzA1lpdrzm–1568784636-9935734153
    Wenn es um den eigenen (Daten-)Schutz geht, haben Nummern tatsächlich etwas Vorteilhaftes.

    Die Frage hierbei ist, welche Optik die «Nummernbetreiber» einnehmen. Steht der reale Mensch oder die Nummern bzw. das Schattenkonstrukt im Vordergrund?

    Für mich beantwortet sich die Frage dadurch, als dass uns gewisse Unternehmen gar nicht persönlich kennen. Wir bestellen beispielsweise online und sind damit von Anfang an nur eine Nummer.

    Daraus werden dann allerdings Rückschlüsse gezogen, sodass Du per E-Mail die neusten Angebote vermittelt bekommst, welche sich an Deinem bisherigen (Online-)Verhalten orientieren. Dieses Beispiel hat an sich nichts Dramatisches. Aber was ist, wenn’s nicht bloss um eine CD, ein Buch, einen Telekom-Anbieter usw. geht?

    @ tinu
    Und doch sind Deine Freunde in Deinem iPhone nur eine Nummer – aber eine mit einer emotionalen und persönlichen Bedeutung.

  4. [HKEY_CLASSES_ROOT\EARTH\{4A5899CF-x27D-4040-AE03-FCAFBLAB9CD42}/comment]
    Gerade aktuell werden anonym geglaubte Nummern auf dem internationalen Staatsvertretermarkt den zuständigen Steuerbehörden für ein bescheidenes „Vermittlungshonorar“ angeboten. Ob gerechtfertigt, moralisch vertretbar, der Zweck heiligt die Mittel, usw., darüber lässt sich streiten.

    Aber ich erinnere mich noch gut an die (wirklich aller)letzte anonyme Bürgerbefragung des Bundes via Telefon, die ich noch mitgemacht hatte. „Guten Tag Herr (NameDesAutors), ihr Beruf ist Atomkraftwerkbauer, richtig?“ und das stimmte leider überhaupt nicht. Damit beendete ich die Befragung und verabschiedete ich mich von der netten Dame, da ich nicht gewillt war, noch mehr persönliche Daten über mich an diese offensichtlich falsch verlinkte Datenbank zu verfüttern.

    Möglicherweise musste sich C.Longchamp ja nur wegen fehlerhafter Dateneingabe und -verlinkung zum unerwarteten Ausgang der Minarettverbots-aber-eigentlich-nur-Ausdruck-eines-unguten-Gefühls-Kundgebungs-Initiative erklären.

  5. Ja ja, die Fasnacht hat bereits begonnen, denn die Narren sind los. Dass wir von Italien noch nichts gehört haben, liegt wohl daran, dass die jeweils Razzia-Rambo-mässig Banken stürmen. Das erspart leidige Diskussionen über rechtsstaatliche Prinzipien.

    Die Österreicher kennen das Bankgeheimnis selber und werden sich tunlichst zurückhalten und die Liechtensteiner sind gebrannte Kinder. Jetzt müssten wir die Kreis erweitern: Grossbritannien als nächstes? Oder besser noch die USA, dann müsste BR EWS wegen der UBS nicht mehr verhandeln gehen…

    Wie auch immer: Für Atomkraftwerkbauer und andere Phiolsophen habe ich heute einen ersten Teil zum Thema «Bürgerbefragungen» aufgeschaltet…

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