Stimmenfängerei

Letzte Woche wurde bekannt, dass gegen den Bieler SP-Nationalrat Ricardo Lumengo eine Untersuchung wegen «Stimmenfang» laufe. Wie zu erwarten war, wurden seitens der politischen Gegner sofort Rücktrittsforderungen laut. Doch wie «schlimm» ist ein solches Vergehen?

Um es gleich vorweg zu nehmen: Die Untersuchung gegen Lumengo wegen «Stimmenfang» anlässlich der Nationalratswahlen 2007 wurde eingestellt, da ein graphologisches Gutachten ergeben hatte, dass die 47 Wahlzettel mit gleicher Handschrift nicht von ihm stammten.

Demgegenüber steht Lumengo dazu, bei angeblich unerfahrenen Wählenden exemplarisch den Wahlzettel bei den Berner Grossratswahlen im 2006 ausgefüllt zu haben und zwar im Glauben darin, diese würden anschliessend einen neuen Stimmzettel ausfüllen. Das war in 44 Fällen offensichtlich nicht so. Details dazu können seiner Medienmitteilung entnommen werden.

Planmässiger Stimmenfang?

Der Begriff «Stimmenfang» ist ziemlich verfänglich, zumal er umgangssprachlich sehr häufig im Sinne eines Wahlkampfes angewandt wird. So titelte zum Beispiel die Zeitung «Der Bund» Mitte Januar, dass die beiden SVP-Kandidaten für den Berner Regierungsrat, Christoph Neuhaus und Albert Rösti, mit einem Bus auf «Stimmenfang» gingen.

Doch hier geht es um die juristische Bedeutung von «Stimmenfang», wie sie in Art. 282 des Strafgesetzbuches definiert ist:

Stimmenfang

Wer Wahl- oder Stimmzettel planmässig einsammelt, ausfüllt oder ändert oder wer derartige Wahl- oder Stimmzettel verteilt, wird mit Busse bestraft.

Ob im hier vorliegenden Fall überhaupt von «planmässig» gesprochen werden kann, ist sicher eine Ermessensfrage. Sinn und Zweck dieses Gesetzesartikels ist es ja, Missbräuche im grossen Stil («planmässig») zu verhindern.

Es geht hier aber nicht um Hunderte oder gar Tausende von Wahlzetteln, sondern lediglich um 44. Daher ist der Begründung Lumengos bezüglich exemplarischem Ausfüllen wohl mehr Glauben zu schenken als den verbalen Anklagen seitens der politischen Gegner, er hätte die Wahlen willentlich (und eben im grossen Stil) manipuliert.

Gegenüber Telebielingue meinte ein Politiker der Schweizer Demokraten, er hätte auch schon einmal exemplarisch einen fremden Wahlzettel ausgefüllt, diesen dann jedoch mit «Muster» gekennzeichnet.

Man mag nun Lumengo Naivität vorwerfen, es nicht gleich, also einen handschriftlich ausgefüllten Wahlzettel nicht mit einer entsprechenden Bemerkung zu einem ungültigen Wahlzettel gemacht zu haben.

Auch würde man meinen, dass Nationalratskandidaten doch nicht so naiv sein können, wenn sie für ein solches Amt kandidieren. Andererseits hört man in den Medien hin und wieder Aussagen von Gewählten zu bestimmten Themen, die es an Naivität auch nicht mangeln lassen… Vor Naivität ist somit wohl niemand gefeit, egal um welche Sache es sich handelt.

Anspruchsvolles Wählen

So kann man es durchaus auch als naiv betrachtet, jetzt nur Lumengos Tat als Untat abzutun, ohne den «Wahlzirkus» in seiner Gesamtheit einmal genauer zu hinterfragen.

Wenn nämlich Politiker beider politischen Pole Wahlzettel exemplarisch für ihre Wähler ausfüllen – ob nun mit oder ohne «Muster»-Kennzeichnung – dann drängt sich doch die Frage auf, ob das Wahlprozedere an sich nicht zu kompliziert ist.

Wohl in allen Kantonen erhalten die Wahlberechtigten bei Parlamentswahlen eine Serie von vorgedruckten Listen, welche jeweils noch mit einer oder zwei leeren Listen ergänzt werden.

Nun kann jeder kumulieren, panaschieren und Listennummern eintragen – aber eben nicht so beliebig, wie man denkt. Schnell riskiert ein Wahlberechtigter, eine Stimme zu vergeben, wenn er es nicht richtig macht, also wenn er beispielsweise dreimal den gleichen Namen einfüllt (zweimal ist hingegen erlaubt, logisch, nicht wahr?). Schon alleine bei den Begriffen «kumulieren» und «panaschieren» dürften viele schon die Augen rollen lassen, weil sie sie nicht verstehen.

Demgegenüber erscheint das Ausfüllen einer Steuererklärung schon fast wie ein Kinderspiel, zumal einem da die Steuerbehörde darauf hinweist, sollte man etwas falsch gemacht haben (ausser Sie hätten Ihre Millionen auf den Cayman Islands nicht angegeben 😉 ).

Vorgedruckt vs. handschriftlich ausgefüllt

Die einfachste und sicherste Variante ist deshalb, einen der vorgedruckten Listen unverändert zu übernehmen, was wohl viele auch aus Bequemlichkeit machen. Die Sache hat aber einen Haken: Auch das kann man als Stimmenfang (im juristischen Sinne) betrachten.

Mit vorgedruckten Wahlzetteln wird nämlich «planmässig ausgefüllt» und zwar im Auftrag der jeweiligen Gruppierungen beziehungsweise Parteien. Nur sieht darin niemand etwas Verwerfliches.

Auch wird es nicht als manipulativ betrachtet. Man kennt von einer Liste bestenfalls die ersten zwei, drei Namen. All jene, die dahinter folgen, sind vielen unbekannt. Indem man eine dieser vorgedruckten Listen unverändert einwirft, gibt man somit seine Stimme an Personen ab, die man nicht kennt.

Je mehr Wahlberechtigte das Gleiche tun, desto höher ist die Chance, jemanden zu wählen, den man eigentlich gar nicht kennt. Jemanden zu wählen, den man nicht kennt, bezeichnet man aber nicht als manipulativ…

Erkaufte Stimmen

Wenn die Rede von planmässiger Wahlmanipulation im grossen Stil anlässlich von Wahlen die Rede ist, kommt man nicht darum herum, auch das Werbeverhalten der Kandidaten zu erwähnen.

Wahlwerbung erlaubt, dass sich der Wählende im wahrsten Sinne des Wortes ein Bild des Kandidaten machen kann – aber nicht mehr. Wahlwerbung dient nicht der Meinungsbildung. Es geht auch nicht darum, die Wahlberechtigten von einer Sache beziehungsweise von einer Person zu überzeugen.

Sollte es darum gehen, bräuchte es mehr als nur das Bild eines Kopfes mit einem wenig aussagenden Slogan, einer Parteibezeichnung und einer Listennummer, so wie das häufig auf Plakaten sichtbar ist.

Weil nicht Argumente im Vordergrund stehen, die überzeugen sollen, zielt Wahlwerbung einzig auf einen prägenden Eindruck ab. Wir Wählende sollen gezielt dazu gebracht werden, beim Auswählen eines Kandidaten oder einer der grauen Wahllisten mit unzähligen Namen jene zu wählen, an welche wir uns dank Wahlwerbung noch erinnern.

Es versteht sich von selbst, dass, je intensiver ein Kandidat wirbt, desto eher bleibt er bei den Wählenden haften. Das hat mangels konkreter Argumente und mangels Chancengleichheit – es stehen den Kandidaten unterschiedlich viele Mittel zur Verfügung – schon etwas Manipulatives. Und: Wahlwerbung betreibt man nicht willkürlich, sondern planmässig.

Apropos verfügbarer Mittel: Anlässlich der letzten Nationalratswahlen gaben gemäss einer von Politologe Georg Lutz durchgeführten Befragung nur sieben Prozent der Grünen, jedoch 47 Prozent der SVP-ler über 10’000 Franken für Wahlwerbung aus (Grundsätzlich gilt: Je politisch rechter umso mehr wurde ausgegeben).

Wer somit den Vorwurf der Wahlmanipulation in den Mund nimmt, sollte zugleich auch sein eigenes Werbeverhalten hinterfragen. Alles andere ist – mit Verlaub – scheinheilig.

Genauso scheinheilig kann es einem erscheinen, wenn man dem einen vorwirft, er hätte Wahlmanipulation betrieben, weil er selber Hand angelegt hat, währenddem man selber, aber auf andere Weise, vorzeigt, wie’s gemacht werden muss:

Chancengleichheit?

Freie und faire Wahlen – das ist schliesslich das Ziel. Mögen jene Kandidaten gewinnen, welche am besten zu überzeugen vermögen.

Davon sind wir aber bei weitem entfernt. Faire Wahlen sind nur möglich, wenn es auch eine Chancengleichheit für alle Kandidaten gibt. Bei TV-Duellen, wie wir das von den USA oder Deutschland her kennen, gibt es darum nicht umsonst Redezeit-Limiten.

Doch diese Chancengleichheit besteht heute nur beschränkt. Sie wird dank unterschiedlich vorhandenen finanziellen Mitteln verzogen. Das kann dazu führen, dass wirklich gute Kandidaten nicht gewählt werden, weil sie sich die nötige visuelle Präsenz nicht erkaufen können. Es kann aber auch dazu führen, dass solche gewählt werden, welche eben nicht brillieren…

Wenn wir wirklich an guten Politikern interessiert sind, dann sollten wir nicht über 44 Wahlzettel debattieren, sondern über das Wahlprozedere und die Chancengleichheit bei Wahlen an sich.

Alles andere ist eine Scheindebatte.

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4 Antworten auf „Stimmenfängerei“

  1. „exemplarisch den Wahlzettel bei den Berner Grossratswahlen im 2006 ausgefüllt zu haben und zwar im Glauben darin, diese würden anschliessend einen neuen Stimmzettel ausfüllen“
    Wo gibt es das?
    Wen sich jemand einen Stimmzettel exemplarisch ausfüllen lässt und nachher einen anderen Stimmzettel ausfüllt hat er also 2 Stimmzettel bekommen.
    Das scheint es ein grosses Problem zu geben: Leute bekommen 2 Stimmzettel.
    Wenn es denn stimmt.

    In den Abstimmungsunterlagen liegt eine Gebrauchsanleitung bei.
    Wie so oft, gilt auch hier:“Wer lesen kann ist eindeutig im Vorteil.“

    Die finanziellen Aspekte (Werbekosten, Spenden etc.) gehören wirklich mal angeschaut.

  2. Planmässiger Stimmenfang?
    Wäre Ricardo Lumengo planmässig vorgegangen, wären die nun 44 verbliebenen ausgefüllten Zettel ein totales Flop gewesen wegen zu geringer Anzahl. Es wäre totaler Hirnriss, ihm solches zu unterstellen. Sicherlich war es aber eine «Riesige Dummheit», wie der Politologe Hans Hirter in der Berner Zeitung sagt.
    Das macht mich hibbelig: Er hätte seine Vorschläge bloss mit einer grossen Diagonale auszustreichen brauchen!

    Vorgedruckt vs. handschriftlich ausgefüllt
    Das verrückteste Argument ist wohl das mit dem vorgedruckten Wahllisten, die in der Tat «planmässig ausgefüllt» und somit eindeutig dem Stimmenfang zuzuschreiben sind. – So hatte ich die Sache in der Tat noch nie betrachtet …

    Erkaufte Stimmen
    Gegenseitiges Konkurrieren der verschiedenen Parteien bedeutet auch immer wirtschaftliche Konkurrenz. Aus dem jeweiligen zur Verfügung stehenden Wahlbudget Stimmenfang im rechtlichen Sinn abzuleiten, ist eine sehr gewagte Betrachtung. Daraus gäbe es nur Eins abzuleiten:
    Ein Wahlkampf bzw. ein Abstimmungsgeschehen ist immer potenzieller Stimmenfang.
    Link: Weniger Chancenungleichheit bei den Nationalratswahlen 2011 (Andreas Gross)

    Zu Deinem Schlusswort
    Konkret dürfte man letztlich sagen, dem Veröffentlichen des «Falls Lumengo» sei eine Scheindebatte gefolgt mit dem Ziel, Ricardo Lumengo vom Thron zu fegen.
    Nun, es war eine Kurzdebatte, Lumengos Image ist angeknackst. Ob er 2011 von einem «Opferbonus wegen Rassismus» profitieren wird, steht in den Sternen. Vorteilhaft für ihn könnte sein, die gerichtliche Beurteilung über die restlichen 44 Wahlzettel erfolge möglichst bald und gehe zu seinen Gunsten aus.
    Link: Heikles Weibeln im Altersheim (Berner Zeitung, 23.02.2010)

    Wenn ich nun alles, was ich in den letzten Tagen bezüglich Stimmenfang wahrnahm, überschlage, komme auch ich zu einem Schluss, der vielerorts zu vernehmen war:
    Unser Stimm- und Wahlsystem ist extrem anfällig auf Manipulationen aller Arten.

  3. @ Kikri
    Zwei Wahlzettel ist kaum möglich. Wer wählt, ob nun an der Urne oder brieflich, hat ja einen Stimmrechtsausweis abzugeben. Es gilt die Gleichung: 1 Stimmrechtsausweis = 1 Wahlzettel. Ich gehe davon aus, dass die Wahlbüros mehrere Wahlzettel zu einem Stimmrechtsausweis automatisch als ungültig erklären. Am Ende des Tages braucht es genau gleichviele Stimmrechtsausweise wie Wahlzettel und umgekehrt.

    Zur Gebrauchsanweisung: Ich bin mal gespannt, wie jene der kommenden Grossratswahlen aussehen wird. Anlässlich der letzten Wahlen wohnte ich noch nicht im Kanton Bern.

    @ Quantensprung
    Besten Dank für den Link zum BZ-Artikel. Hätte ich den bereits gekannt, hätte ich ihn sicher einfliessen lassen.

    Zur Frage, ob ein Wahl- oder Abstimmungskampf immer potentieller Stimmenfang (im juristischen Sinne) ist, gebe ich Dir zwei Antworten:

    1) Nein, weil der oben erwähnte Gesetzesartikel sich immer noch auf den rein phyischen Prozess des Wählens (oder Abstimmens) beschränkt, was in früheren Zeiten gerechtfertigt war (Hans Hirter spricht von den 20er- und 30er-Jahre des letzten Jahrhunderts).

    2) Aber ja, wenn man sich die heutige Zeit anschaut. Noch nie wurde so intensiv für Personen und Abstimmungsvorlagen geworben wie in den letzten Jahren (siehe Link zu Georg Lutz‘ Befragung). Dass Parteien und Abstimmungskomitees kommerzielle Werbeflächen nutzen, scheint mir ein noch relativ junges Phänomen zu sein. Darum, und auch aufgrund der Werbe-Intensität, wird nach meiner Auffassung schon längst im Kopf gewählt oder abgestimmt und nicht mehr zu Hause im stillen Kämmerlein vor dem Abstimmungsbüchlein oder den Wahllisten. Verschiedene Medienformate tun noch ihr Übriges dazu.

    Die Gesetzgebung ist dem nie gefolgt. Der Gesetzgeber geht immer noch vom Entscheid im stillen Kämmerlein aus… ausser es betrifft die «Arena», bei der sich dann schnell einmal einige benachteiligt fühlen, wenn sie nicht (oft genug) eingeladen werden… Doch immerhin sind Medienformate schon fast um einen gewissen Meinungsausgleich gezwungen, währenddem es bei den erkaufbaren Flächen keinen Ausgleich gibt.

    Zu Andi Gross‘ parlamentarischen Initiative: Sie geht in die richtige Richtung, hat aber kaum Chancen, wie schon der Bericht der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats zeigt. Die bürgerlich dominierte Mehrheit der Kommission (und wohl auch der beiden Räte) ist gar nicht an Transparenz interessiert. Das lese ich zumindest aus dem scheinheiligen Argument des möglichen Betrugts heraus…

    Und selbst wenn die Transparenz da wäre, ändert das noch nichts am System. Ich kann mich deshalb nur Deiner Schlussfolgerung anschliessen.

  4. Schade, wenn Politiker dem in sie gesetzten Vertrauen nicht gerecht werden und statt die wichtigen Bälle zu treten, sich selber naiv ins Abseits stellen. Lumengo hat wissentlich unfair gespielt und mehrfach gefoult. Dafür musste er im ersten Viertel bereits schon auf die Strafbank und jetzt gab es für absichtliches Handspiel erneut die gelbe Karte. Auch wenn die gegnerischen Fans in der Politkurve bereits lautstark den Ausschluss fordern, so dauert dieses Spiel 4 Jahre, und nach dem Abpfiff 2011, werde ich den linken Flügelverteidiger Lumengo wohl nicht mehr fürs nächste Spiel vorschlagen.
    Aber genau das ist mein Problem. Wenn ich nur die Leute aufzähle, deren Leistungsausweis ich persönlich kenne, so reicht eine Hand.
    Oder ich empfehle mir unbekannte, aber gemäss Smartspider möglichst deckungsgleiche Spieler und vertraue weiterhin darauf, dass sie keine Eigentore schiessen.
    😉

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