Die Nicht-Opfer

Wenn nur noch Zahlen Schlagzeilen auslösen und trotzdem nicht betroffen machen, werden Opfer automatisch zu «Nicht-Opfern»…

104 Menschen kamen kürzlich beim Absturz eines Flugzeuges anlässlich des Landeanflugs auf den Flughafen der libyschen Hauptstadt Tripolis ums Leben. Überlebt hat einzig ein niederländischer Junge.

Nach diesen 104 Menschen und deren Geschichte hat keiner gefragt. Ähnlich ist es mit den geschätzten 74 Getöteten in Bankok, egal wessen Lager sie angehörten.

Bezifferte Tragödien

In den Hochwassern von Polen kamen «nur» fünf Menschen ums Leben. Dafür seien «Duzenden» von Häusern einsturzgefährdet. Auch da fragt niemand nach, auch da denkt niemand an das Herzblut, die Emotionen und die Erinnerungen, welche in diesen Häusern steckt. Und auch da denkt niemand daran, dass es nicht bloss Häuser sind, sondern das Zuhause zahlreicher Menschen, welche sich darin bisher wohl und geborgen fühlten.

Bei der Seegrenze zwischen Nord- und Südkorea kamen vor wenigen Wochen 46 Seeleute wegen eines mutmasslichen Torpedoangriffs durch Nordkorea auf ein südkoreanisches Kriegsschiff ums Leben. Waren das überhaupt alles Männer oder waren vielleicht auch vereinzelt Frauen darunter? Waren sie verheiratet und hatten sie Familie? Niemand fragt danach.

Seit dem Untergang der Ölbohrinsel im Golf von Mexiko werden immer noch elf Menschen vermisst. Nicht einmal deren Zahl ist heute noch erwähnenswert.

Durch den nun vorhandenen Ölteppich werden zwar kaum Menschenleben ums Leben kommen. Doch «Tausende» von Tieren sind bereits schon kläglich verendet und werden noch kläglich verenden. Über deren leidiger Todeskampf berichtet auch niemand.

Emotionale Überforderung?

Solche Zahlen machen etwas volumenmässig greifbar – aber schicksalsmässig nicht unbedingt begreifbar. Wären wir emotional überhaupt (noch) in der Lage, die Einzelschicksale zu verkraften? Vermutlich tendieren gerade deshalb viele zu Vereinfachungen mittels irgendwelchen Zahlen, weil es uns andernfalls überfordern würde.

Trotzdem: Alle Schicksale nur noch mit Zahlen abzubilden führt wiederum zu einer Verharmlosung. Eine Tragödie wird zu einer nackten Zahl. Und da wir täglich mit solchen Zahlen konfrontiert werden, stumpft dies ab.

46 südkoreanische Seeleute kamen da um. Nun stellen Sie sich einmal vor, einer von ihnen wurde vor drei Monaten glücklicher Vater einer Tochter.

Sie, dieses kleine unschuldige Wesen, wächst nun als Halbwaise auf und wird ihren Vater nie zu Gesicht bekommen. Dessen Mutter hat selber nicht nur die Trauer zu bewältigen, sondern wird nun wohl auch ihr ganzes Leben verändern müssen.

Ähnlich dürfte es im Umfeld der anderen 45 Menschen sein. Da ist es doch einfacher, all deren Schicksale und Lebensumstände einfach nur bei einer Zahl zu belassen, nicht wahr…?

Betroffenheit dank Bekanntheit

Es gibt aber auch das Gegenteil. Täglich widerfährt unzähligen Menschen ein trauriges Einzelschicksal ohne grosse Schlagzeilen, weshalb wir in der Regel auch nicht Kenntnis davon nehmen.

Wenn’s gut kommt, hören wir einmal jährlich von ihnen, weil sie als ein Anteil einer Zahl in irgendeiner publizierten Statistik auftauchen. So stirbt beispielsweise täglich auf den Schweizer Strassen ein Mensch. Vielleicht ein Kind, ein Vater, eine Mutter, eine Geliebte oder der rüstige Grossvater. Wir wissen es nicht.

Sicherlich ist Ihnen aber auch die Situation bekannt, in welcher Sie vernehmen, dass jemandem, den Sie kennen, etwas Unerwartetes widerfahren ist. Ihre Reaktion kann Überraschung, Ungläubigkeit und/oder Betroffenheit sein.

Das heisst, wenn wir jemanden kennen, geht das nicht einfach so an uns vorbei. Er ist nicht bloss eine Zahl in einer Statistik, sondern ein Bekannter, ein Freund oder ein Angehöriger. Er ist auch ein Einzelschicksal und ein Schicksal, das wir persönlich kennen. Wir denken an vergangene Begegnungen mit ihm, an seine Familie, einfach an das, was wir von ihm kennen.

Fremde Schicksale kennen lernen wollen

Natürlich können wir nicht alle auf der Welt kennen. Zu sagen, man würde jemanden kennen, ist ohnehin äusserst relativ. Aber wir können uns bemühen, einen Menschen und dessen Schicksal kennen zu lernen – wenigstens ein Stück weit und zwar egal ob er aus Südkorea, Polen, den Niederlanden, Thailand oder der Schweiz stammt.

Dann gehen Tragödien wie eingangs erwähnt auch weniger nur in Form einer Zahl an uns vorbei. Dann nehmen wir das, was weltweit alles geschieht, sicher noch häufiger mit anderen Augen wahr.

Das Gegenteil davon entspricht einem bewussten oder unbewussten Ignorieren. Das ist gefährlich. Es führt zu einem Klima des Vergessens und des Nichtbeachtens. Die Betroffenen, die Opfer werden so zu «Nicht-Opfer». Viele nehmen zwar eine Zahl, nicht aber die Opfer, deren Schicksal und deren Leiden wahr.

Einer, der immer wieder Ausschnitte von Einzelschicksalen aus dem Nahen Osten zeigt, ist der SF-Nahostkorrespondent André Marty. Er wurde gerade kürzlich für den Grimme Online Award nominiert. Lesen Sie sich rein – falls sie es nicht bereits schon regelmässig tun – und geben Sie ihm Ihre Stimme, falls auch Sie es schätzen, nicht bloss immer schreierische Zahlen zu hören oder zu lesen.

Bisher ignorierte Einzelschicksale

Andere, welche eine Art André Marty brauchen könnten, sind die 785 Kinder, welche letztes Jahr in der Schweiz misshandelt und offiziell erfasst wurden. Die effektive Zahl dürfte noch viel höher liegen.

Aber eben: Es ist wiederum nur eine Zahl, welche nichts über die Einzelschicksale verrät. Auch sie führt wiederum nur dazu,  dass sie an einem Tag im Jahr in die Schlagzeilen und an den anderen 364 Tagen in die Vergessenheit gerät…

Dabei verdienten gerade Kinder mehr Aufmerksamkeit, denn sie sind die Schwächsten in unserer Gesellschaft, sie können nicht für sich selber lobbyieren. Sie müssten sich als Missbrauchsfälle zudem noch zu einem Thema äussern, das unangenehm ist.

Es wäre auch im präventiven Sinne wichtig, dass sie mehr Aufmerksamkeit erhielten. Wäre das Thema präsenter, würden mehr (potentiell) Betroffene etwas darüber erfahren und könnten so von dritter Seite her erfahren, was falsch und was richtig ist, was sein darf und was nicht – und nicht von den üblichen Vorbildern aus dem eigenen Umfeld, welche häufig auch die Täter sind.

So bleibt nur: Augen und Ohren in seinem Umfeld offen halten, darüber reden und schreiben, sollte ein Fall bekannt werden und das Thema immer wieder aufbringen, so wie das David auch in seinem Blog «Substanz» hier tut. Denn steter Tropfen höhlt den Stein.

Und: Bei der nächsten «bezifferten Tragödie», egal um wessen Thema es sich handelt, kann sich jeder einmal selber die Einzelschicksale hinter der nackten Zahl ausmalen…

20 Antworten auf „Die Nicht-Opfer“

  1. @titus:
    es ist kein zufall, dass bei themen wie diesem von dir gewählten die kommentar-funktion ziemlich bescheiden genutzt wird; das menschliche wesen ist nur beschränkt fürs genau hinsehen geschaffen, sicher im grenzbereich der gefühle. gleichzeitig gilt’s aber auch zu akzteptieren, dass verdrängungsmenchanismen zum „survival of the fittest“ beigetragen haben. wer sich’s antun will: „War In Human Civilization“ von Azar Gat; ein Wälzer, der diese Mechanismen prächtig darstellt.

    und: möchte die blumen in sachen engagiertem bloggen zurückgeben — wer trotz mässigem leserinteresse immer wieder den finger drauf hält, dem scheint offensichtlich was am thema zu liegen. chapeau, titus, chapeau!

  2. @andré
    Habe alles erledigt 🙂

    @titus
    Als ich noch ein Kind war, und in der Sonntagsschule mein Zwanzig-Rappen-Stück ins «nickende Negerlein» warf, träumte ich davon, allen hungernden Kindern in der Welt einmal genügend Essen zu bringen. Später sah ich die Strassenkinder Südamerikas, und heute sehe ich Hungersnöte und Katastrophen an mir vorbeiziehen wie Wolken am Himmel.
    Ich denke, es ist die totale Ohnmacht angesichts der unzähligen Einzelschicksale, die die tatsächlichen Nicht-Opfer in einen immensen Verdrängungsprozess treibt.

    In fast jeder grösseren Stadt findet sich ein «Grabmal des unbekannten Soldaten» ein «Grabmal des unbekannten Bürgers» – «Tombeau du Citoyen inconnu» – scheint Utopie zu bleiben.

    Als die verheerenden Missbrauchsfälle bekannt wurden, hatte ich mal die Idee für ein «Grabmal der getöteten Seelen missbrauchter Kinder».

    Die «Nicht-Opfer» sind global gesehen eine Sammlung von Milliarden Einzelschicksalen, die im Nebel einer Grauzone verschwinden, weil die Verschonten kraft- und fassungslos den Schicksalsschlägen gegenüberstehen, bis ein besonderes Schicksal sie vielleicht auch ereilt.

  3. Hat wohl auch viel mit Abstumpfung zu tun und bei den Opfern selber, die sich melden und alles erdenkliche gemacht haben nur um dann festzustellen, dass es nichts gebracht hat und man anstatt Hilfe nur noch mehr ausgegrenzt wird genau weil man es gewagt hat Tacheles zu reden, führt es irgendwann zur Abkehr, Isolation und Interessenlosigkeit… Letzteres sehe ich letztens vermehrt rund um die Kirchen-Missbrauchsfälle, Anfangs hatten alle neue Hoffnung das endlich was geschieht, doch nun weicht dieses Fünkchen Hoffnung vermehrt wieder der Hoffnungslosigkeit und der Erkenntnis das alles wie immer läuft und ausser viel Gerede und leeren Versprechungen rein gar nichts konkretes unternommen wurde und wird… So ist das eben wenn man Hoffnung weckt und sie wieder zerschlägt und wieder weckt um sie wieder zu zerschlagen, irgendwann stumpft man ab und zwar generell, irgendwann interessiert es einem nicht mehr und man wählt die Abkehr und die Isolation – unterschwellig bleibt aber die enorme Wut nach wie vor da, was dann wiederum gefährlich wird wenn jemand es wagt die selbst gewählte Isolation irgendwie gewaltsam zu durchbrechen, denn das wird dann als Angriff gewertet…

    Ich bin noch nicht ganz beim letzten Stadium angelangt aber wenn bei mir das ganze noch Jahrelang so weitergeht, dann könnte es durchaus so kommen, dass mich diese Gesellschaft vollends egal ist und ich womöglich nicht mal dann eingreife wenn jemand gerade am Boden liegt und am verbluten ist, denn das ist ja dann nur einer dieser Gesellschaft von der ich ja nichts mehr wissen will, einer aus einer anderen Fraktion sozusagen der mich nicht mehr in Geringsten interessiert…

    Genau die gleichen Mechanismen die sonst spielen, spielen doch auch bei diesem Ölskandal, da will auch niemand dafür verantwortlich sein, die Bonzen werden nichts entschädigen und die Kleinen bleiben auf ihren Schäden hocken… Genau das selbe geschah auch bei Exxon, anfangs grosskotzig Versprechen man übernehme die volle finanzielle Verantwortung nur um dann Jahrelang die Geschädigten zu zermürben und dann lächerliche 500 Millionen zu zahlen wo es eigentlich 500 Milliarden hätten sein müssen…

    Und auch sonst läuft vieles genau auf das heraus, dass die Bonzen machen können was sie wollen und für sie nicht mehr Recht und Ordnung gilt, doch wehe ein Kleiner parkiert mal falsch, der wird dann gnadenlos zur Kasse gebeten…

    Noe, das ist nicht sauber und hat auch nichts mit Demokratie und Rechtsstatt zu tun, sondern eher mit Schurkenstaatentaktik, doch dann müssen die Verantwortlichen dann bitte auch nicht beschweren, wenn irgendwann auch die anderen für Schurkenstaaten üblichen Dinge geschehen und dann eben irgendwann mal die Waffen sprechen anstatt Richter!

    Und eben „Augen und Ohren in seinem Umfeld offen halten, darüber reden und schreiben“ nützt eben in einem solchen Umfeld und Klima der Abstumpfung rein gar nichts mehr… Zudem muss man da heutzutage auch noch damit rechnen das man von den Verantwortlichen als Querulant und Störfaktor hingstellt wird und systematisch diskreditiert wird, wenn man es wagt über solche Dinge zu berichten, gibt zig Beispiele wo es so lief!

  4. Ich bin total üpberfordert, an alle Einzelschicksale zu denken und um sie zu trauern.
    Schliesslich habe ich nebenbei auch noch einen Job, muss schlafen etc.

    Ich unterscheide zwischen Personen,
    – die für ihr Schicksal nicht können (dazu zähle ich auch die Opfer des Strassenverkehrs.
    – die sich durch ihre Aktivitäten selber in Schwierigkeiten gebracht haben oder damit rechnen mussten, dass es so kommen kann. Bsp. Matrosen, auch südkoreanische, Soldaten, Lybienbesucher, Segler vor der somalischen Küste. Besucher der USA, besoffene Autofahrer uswusf

  5. Ja Titus, Du hast vollkommen recht. Lesen wir von einem Flugzeugabsturz mit x-Toten dann nehmen wir die Anzahl Toten wahr, nicht aber die Schicksale des einzelnen Menschen. Ist aber ein wenig schwierig, denn wenn in Togo ein Flugzeug abstürzt, irgendwo in Afrika Christen umgebracht werden, lesen wir darüber, aber mir selbst fehlt die Vorstellung. Wie soll ich mich in diese Menschen die zurückblieben reinversetzen? Jeder Mensch weiss, was Trauer ist, deshalb bin ich der Meinung, dass auch jeder Mensch ein wenig mitfühlt, wenn er solche Schlagzeilen liest, aber mehr kannst Du beim besten Willen nicht erwarten.

    Als ich Deinen Beitrag heute las sprangen mir speziell die misshandelten Kinder die im Kispi landen ins Auge. Stell mir vor, dass die Dunkelziffer noch viel höher sein wird. Aber was wollen wir dagegen machen? Was bringt da Aufklärung? Wenn der Vater oder die Mutter ausrastet ist es für diese armen Geschöpfe eh schon zu spät. Ganz zu schweigen von den Ausrastern, die gar nicht an die Öffentlichkeit gelangen.
    Mir tun diese armen, kleinen, wehrlosen Geschöpfe leid, aber wie können wir sie schützen?

    Im Beobacher las ich nachfolgenden Artikel:
    http://www.beobachter.ch/justiz-behoerde/buerger-verwaltung/artikel/kinderheime_duestere-jahre/

    Auch das sind Schicksale, Geschehenes das jahrzehntelang unter den Tisch gekehrt wurde. Das sind Schicksale von Menschen die seit ihrer Jugend mit einem Trauma leben. Und liest Du genau, so merkst Du, wie dieses Thema auch heute noch durch die Regierung mit fadenscheinigen Ausreden unter den Tisch gekehrt werden möchte.

    Oder denk nun an die Verdingkinder!

    @ Chris
    Ich weiss nicht, ob ich das darf, aber ich frage Dich trotzdem mal an: Du schreibst Dir jeweils Deinen Frust vom Herz. Ob wir, weiss ich nicht, aber ich steh jeweils da und hinterfrage mich, was denn Dir geschehen/widerfahren ist.
    Vielleicht täte es ganz gut, Dich mal zu outen, so könnte ich Dich besser verstehen, aber diese/Deine Anspielungen bringen mich nicht weiter. Weiter insofern, damit ich Deine Kommentare auch verstehen könnte.

    @ Titus
    Es wäre nicht die Ate, täte sie nicht immer off-toppic machen!
    Nein im Ernst ich bin zu faul den alten Beitrag wieder vorzusuchen.
    Eine Antwort bin ich Dir aber auf Deine(war sie lustig gemeint?) Frage schuldig.
    Wie schrie der Gute nochmals? „Geht hin und vermehret euch“. Da kannst Du ja nicht annehmen, das der die Kondome gutgeheissen hätte.
    Wollen wir ihm zugute halten, dass er dazumals noch nichts von der Übervölkerung und vor allem nichts von Aids wusste.

    Übrigens, wenn ich es im Radio richtig gehört habe, kamen heute Kondome mit dem Konterfei vom Razinger auf den Markt.

  6. Heutzutage brauchen wir wohl erst recht Verdrängungsmechanismen, damit die Sicherungen nicht aufgrund der unzähligen Botschaften (Nachrichten, Werbung, «Alltagsgeräusche», Stimmenwirrwarr in Menschenmassen usw…) durchbrennen.

    Trotzdem meine ich, müsste man unterscheiden zwischen Verdrängung zum Selbstschutz und Verdrängung, um sich nicht mit einem Problem auseinandersetzen zu müssen.

    Ein Stimmenwirrwarr zu verdrängen, um ein harmloses Beispiel zu nennen, geschieht zweifellos zum Selbstschutz. Uns würden ansonsten wohl die Ohren abfallen… 😉

    Aber: Wenn verdrängt wird, verschärft sich ein Problem wohl eher noch mehr (von alleine lösen sich nur die wenigsten Probleme). Und weil es sich verschärft, muss noch mehr verdrängt werden, was schliesslich zu einem Teufelskreis führt.

    Die Frage ist somit nur, wann diese Blase des Verdrängens und des Selbstbetrugs zerplatzen und was es auslösen wird.

    Oder aber es findet Einsicht schon vor dem Zerplatzen statt. Daran fehlt mir besonders in den letzten Tagen etwa der Glaube. Hingegen bin ich überzeugt, dass Verdrängtes irgendwann an die Oberfläche gelangt. Bis es jedoch soweit ist, müssen viele andere (weiter) leiden… 🙁

  7. @ Titus: Die Meldung vom Flugzeugabsturz habe ich tagsüber im Internet gelesen. Deshalb fiel es mir auch auf, dass die Meldung in den TV-Hauptnachrichten 19.30 bzw. 20.00 erst nach einigen Minuten erwähnt wurde. Ein Absturz in Europa hätte zu den ersten Drei Meldungen gehört. In diesem Moment ging es mir auch durch den Kopf, dass es auch bei Flugzeugabstürzen Klassenunterschiede gibt. Ohne die vielen Europäer als Opfer, hätte es vielleicht gar nicht für eine Meldung im Fenrsehen gereicht. Auf jeden Fall, gibt es weltweit eine ordentliche Anzahl Crashes, die nur im Print mit sher knapp erwähnt werden.

    Doch wollen wir noch mehr schlechte Nachrichten, von denen wir als Folge des Technologiefortschritts bereits erdrückend viele, inkl. Bilder und sofort erhalten?

  8. Das ist mir auch schon aufgefallen: Es gibt unterschiedliche «Qualitäten» von Flugzeugabstürzen, zumindest wenn es nach den Medienberichten geht. Ähnliches sah man in den letzten Tagen beispielsweise mit den Hochwassern in Polen. Sie fanden zwar Erwähnung, aber nicht an erster Stelle. Demgegenüber waren die Medien tagelang voll, als vor wenigen Jahren halb Ostdeutschland unter Wasser stand. Wie schnell doch die Gewichtung schwankt, je nachdem wie kulturell «verbrüdert» die Betroffenen mit uns sind…

    Internet ist grenzenlos, was die Menge anbelangt. Da gibt es keine Einschränkung in Zeilen oder Sekunden. Und weil man unseren vermeintlichen Informationshunger ständig füttern will, werden auch Nachrichten abgesetzt, welche reine Banalitäten sind, so ganz nach dem Motto: Hauptsache man hält uns bei der Stange. Allerdings wäre weniger meistens auch mehr.

    Andererseits erlaubt die mengenmässige Grenzenlosigkeit auch, Meldungen zu verbreiten, welche als «zweitrangig» eingestuft wurden (so von wegen Flugzeugabsturz im fernen Bolivien ohne europäische Opfer) und von welchen wir ansonsten vielleicht gar nie etwas erfahren hätten. Schlüsselstelle (und bis anhin immer wenig diskutiert) ist da wohl diejenige Person, welche entscheidet, was rein kommt und was nicht bzw. worüber wie viele/wie lange berichtet wird oder eben nicht.

    Thailand war in der letzten Schweizer Tagesschau gerade noch eine Kurzmeldung von drei Sätzen wert und dies auch nur weil man im abgebrannten Kaufhaus in Bankok zehn Leichen fand. Hatte ich das nur geträumt, dass dieses Land vor zwei Tagen noch kurz vor einem Bürgerkrieg stand?

    Aber hey, dafür haben wir minutenlang erfahren können, dass unser Verteidigungsminister fiktiven Rettungen in Wangen bei Olten beiwohnte. Über reelle Rettungsaktionen aus Polen – wahrlich keine Trockenübungen – haben wir nichts erfahren. Wie schnell doch Wasser sich in Luft auflöst…

  9. Mir geht es wie kikri. Mich überfordert das emotional total. Das ist mit ein Grund, weshalb ich mir immer öfters die Nachrichten nicht mehr ansehe. Jeder Tote hatte ein Leben, zu dem nun zurückgebliebene Angehörige gehören. Alleine diese Vorstellung ist schwer auszuhalten.

    Wenn es dann noch um Kinder geht, dann fehlt mir das Schutzschild. Ich sehe mich jeweils selber in der Situation und leide mit. Noch heute, nach all diesen Jahren, erinnere ich mich an den Moment, als ich in den Nachrichten vom Amokläufer hörte, der in England in einem Kindergarten wütete. Ich habe die Stimme der Mutter, die nach ihrer Tochter „Viktoria“ geschrien hat, noch heute im Ohr.

    Langer Rede kurzer Sinn: Ich ertrage das alles schlicht und einfach nicht. Und deshalb versuche ich, diese Tragödien von mir fern zu halten. Ich entziehe mich ihnen, indem ich in Tagen, in denen solche Dinge passieren, keine Nachrichten schaue und auch sonst den Fernseher kaum einschalte. Mag sein, dass das der falsche Weg ist. Nur: Mit dem anderen komme ich absolut und total nicht klar.

  10. …ist anscheinend Trendy mehr für die Täter als für die Opfer zu tun, der Bundesrat verwässerte ehmm exgüsi konkretisiert die Unverjährbarkeits-Initiative nämlich derart, dass wieder einmal ganz klar der Täterschutz über dem Opferschutz gestellt wurde… Nun ja, aber dann bitte einfach nicht heulen, wenn Opfer sich dazu entschliessen Täter zu werden und ihre Täter wiederum selber richten, schliesslich profitieren sie so ja wenigstens vom beispiellosen Täterschutz… Oder hat ich da nun etwas falsch verstanden? Auf jedenfall kommt die Botschaft bei mir so rüber!

    Sollte ich das jemals so durchziehen, dann werde ich mich danach stellen, voll und ganz dazu stehen und wenn möglich öffentlich kundgeben, dass der Schweizer Staat anscheinend wünscht das Opfer die Sache selber in die Hand nehmen, denn sonst wäre ja der Opferschutz über dem Täterschutz gestellt, also habe ich mich eben dazu entschieden das … 😉

    Wer weiss, womöglich bewirkt so was mehr als tausend Initiativen, vor allem wenn es dann noch Nachahmer gibt… Was würde wohl passieren, wenn alle Opfer einfach ihre Täter richten gehen? Alle einsperren dürfte ein Problem werden und vermutlich würde das Chaos ausbrechen, aber es wäre mal eine eindeutige Botschaft!

  11. Täterschutz, wo?
    Je länger desto weniger, aber desto mehr wird darüber gejammert.

    Die Unverjährbarkeitsinitiative ist etwas vom blödsten, dass das Volk je angenommen hat:
    Jede, die ein bisschen jähger als ich ist und damals +/- in meiner Gegend gewohnt hat, kann mich 50 Jahre später anzeigen.
    Beweisbar ist genausowenig wie damals geschehen ist.
    Ich bekommen einen Freispruch, aber mein Ruf ist am Arsch.

    Wenn die Anklägerin nach meinem Freispruch verurteilt wird (Irreführung der Rechtspflege o.ä) und mir gegenüpber voll schadenersatzpflichtig ist: ok, dann geht es ja noch.

  12. @ Chris
    «Bei der umstrittenen Rückwirkung schlägt der Bundesrat einen Kompromiss vor: Eine Übergangsbestimmung soll festlegen, dass die Unverjährbarkeit auch für jene Straftaten gilt, die vor dem 30. November 2008 begangen worden sind, aber zu jenem Zeitpunkt noch nicht verjährt waren. Eine weitergehende Rückwirkung hält der Bundesrat für nicht vereinbar mit der Europäischen Menschenrechtskonvention.»

    Dafür, dass es die Initianten verpasst hatten, diesen Punkt klar festzulegen, scheint mir das doch ein relativ grosses Entgegenkommen (was im Einzelfall vielleicht nicht so gesehen wird).

    @ Kikri
    Das Problem bezüglich Ruf liegt wohl weniger bei der Klägerin, sondern eher in unserer Gesellschaft, welche zunehmend Menschen vorverurteilt (dabei spielen boulevardeske Medien eine wichtige Rolle).

    Selbst nach einem Freispruch bekommt man das noch zu hören mit Aussagen wie «es konnte ihm nichts nachgewiesen werden». Das suggeriert indirekt, dass man zwar jemanden für schuldig hält, nur lagen nicht ausreichend Beweise vor. Das kann zwar tatsächlich so sein. Trotzdem scheint es mir richtig zu sein, dass eine Schuld eben immer bewiesen werden muss, denn ansonsten könnte einem ja jeder etwas anhängen…

  13. …eines kann ich euch sagen, die Opfer mit denen ich diskutiert habe, sehen das ein wenig anders! Und gerade was das Alter betrifft ist der „Kompromiss“ ein Witz, bei Buben fängt es nämlich später an als bei Mädchen also ist es da bereits hirnverbrannt einfach pauschal 10j zu nennen, zudem wäre 16j wohl allgemein angebrachter! Und das mit der Rückwirkung verstehe ich nicht, was hat das überhaupt mit der Europäischen Menschenrechtskonvention zu tun? Ist die Europäischen Menschenrechtskonvention etwa nur für die Täter oder was? Nur schon das der Bundesrat sich bei dieser Frage überhaupt auf die Europäischen Menschenrechtskonvention bezieht ist ein Witz, aber typisch Dreckschweiz, wenn es um die Täter geht dann zitiert man gerne davon , wenn es aber um die Opfer geht ist alles scheiss egal!

    Die Unverjährbarkeitsinitiative war ein Schritt in die richtige Richtung, schade das wieder mal alles so verwässert wird, dass es nun anstatt Fortschritt eben ein gewaltiger Rückschritt in Sachen Opferorientierung des Strafrechts stattgefunden hat!

    Auf meinen Fall bezogen wäre es wieder mal nur um Monate verpasst, was die Rückwirkung betrifft, daher finde ich diese Festlegung willkürlich und unsinnig! Die Rückwirkung muss bedigungslos sein, denn Unverjährbarkeit enthält implizit die Rückwirkung!

    Und auch interessant wie der Wille des Volkes einfach abgeändert und bis zur Sinnlosigkeit verwässert wird, Drecksstaat!

  14. „was hat das überhaupt mit der Europäischen Menschenrechtskonvention zu tun?“
    Es geht um Rechtssicherheit, eine der elementaren Basen des Rechsstaates:
    Wenn ich etwas tue, das jetzt erlaubt ist, werde ich nicht später bestraft, wenn es dan verboten ist.
    Es gibt immer das Gesetz zur Zeit der Tat.

    Wenn du vor einen Jahr in einem Restaurant geraucht hast (war damals erlaubt) wärst du auch nicht begeistert, wenn du jetzt (es ist verboten) eine Busse dafür bekommst.
    Oder?

    „denn Unverjährbarkeit enthält implizit die Rückwirkung“
    NEIN.

    Wenn du mit rechstaatlichem Handeln der Behörden und Gerichte nichts anfangen kannst ist das dein Problem.
    Den Rechtsstaat ist das wichtigste, das uns bleibt.
    Einen Willkürstaat willst doch auch du nicht.

    Aber mir scheint, dass du bei diesem Thema von einen temorären Hirnausfall (siehe Sprache) erleidest….

  15. Und du machst einen Logikfehler, denn verboten war es schon, es geht nur um die Verjährung von etwas was ohnehin schon verboten ist, deshalb zieht dieses Argument hier nicht! Verjährung schützt nur die Täter, deshalb Täterschutz höher gewertet als Opferschutz!

    Und Unverjährbarkeit enthält implizit die Rückwirkung, denn entweder es ist Unverjährbar oder eben nicht, wenn es unverjährbar ist dann ist es eben unverjährbar und nicht nur teilweise, also implizit rückwirkend!

    Und mit temporärem Hirnausfall hat das nichts zu tun, aber ich bekomme Adrenalinschübe bei dem Thema, das stimmt!

    Und es ist auch sehr interessant, dass jeweils die Europäischen Menschenrechtskonvention zitiert wird wenn im Interesse der Mächtigen ist aber sonst heisst es jeweils die sei irrelevant, sehr interessant! Aber es scheint eben ein Täterorientierter Staat zu sein und kein Opferorientierter, deshalb bekommen dann auch die Täter gratis Therapien in den Arsch geschoben und die Opfer müssen eben selber schauen wo sie bleiben, frage mich ob das der Europäischen Menschenrechtskonvention entspricht???!!

  16. @kikri

    Ich sehe das so: Da schreibt jemand aus der Warte des Opfers, des / der Betroffenen. Und fühlt sich total verarscht und alleine gelassen. Ich finde, solche Hilferufe verdienen Gehör.

    Ich hatte einen jugendlichen Kursteilnehmer, der zum Opfer einer Schlägerbande wurde. Jetzt, Monate später ist er nicht mehr derselbe Mensch. Niemand, gar niemand, kann ihm den Vertrauensverlust zurückgeben, ihm die Angst nehmen. Und heute lese ich in der Lokalzeitung von einer dieser Banden, die über Monate Leute bestohlen, bedrängt und zusammengeschlagen hat – zum Teil „einfach so.“ Das Strafmass ist ein Witz. Ein absoluter Witz. Der Mann, der von 10 Jugendlichen umzingelt, zu Fall gebracht und krankenhausreif geschlagen wurde, wird zum zweiten Mal in seiner Würde verletzt, indem er als Opfer jahrelang an den Folgen trägt, während seine Peiniger mit einer Strafe davonkommen, die ich persönlich als lachhaft bezeichnen würde. Aber eben: Es ist alles genau nach Recht gegangen. Wie viel das mit Gerechtigkeit zu tun hat, ist eine andere Frage.

    Ich frage mich manchmal bang, wie viel noch fehlt, bis Menschen zur Selbstjustiz greifen, weil sie unsere Justiz nicht mehr verstehen.

    Das alles hat mir Hirnausfall wenig zu tun. Aber sehr, sehr viel mit persönlichem Empfinden. Dem Empfinden des Opfers, das die Welt nicht mehr versteht.

    Ich kann noch ein Beispiel geben: Da schlug ein Vater seine Tochter tot. Und überall suchten wir Schuldige im System. Diese Behörden, jene Behörden, Privatpersonen, die zu spät reagierten. Alle sind schuld, dass dieser arme Mann seine Tochter erschlagen hat. Nur er nicht. So mindestens kann es einem vorkommen.

    Und noch ein letztes Beispiel: Die Angeklagten Bandenmitglieder, die unzählige Male sinnlos zuschlugen, zeigten tiefe Reue. Jöö wie herzig. Vor allem: Es wirkt. Und man(n) lernt: Sag einfach zerknirscht SORRY, dann kommst du (fast) ungeschoren davon. Wenn dein Anwalt dann noch von Gruppendruck faselt, ist das schon fast ein Freispruch.

    Hirnausfall? Ja. Fragt sich nur, auf welcher Seite.

    PS: Ja, ich habe schlechte Laune.

  17. @ Kikri
    Im Ansatz stimme ich Dir durchaus zu: Was heute erlaubt ist, dafür sollst Du morgen nicht bestraft werden können.

    Aber selbst wenn sexueller Missbrauch an Kinder und Jugendlichen beispielsweise «erst» seit 50 Jahren im Strafgesetzbuch drin wäre, so wusste man auch bereits schon damals, dass es solche Handlungen nicht geben darf. Deshalb hätte der Bundesrat durchaus gar keine Limite definieren können.

    @ Chris
    Es geht erst um einen Vorschlag des Bundesrats. Verabschiedet ist noch gar nichts, weder seitens Initianten noch seitens Parlament.

    @ Frau Zappadong
    Wie kommt es eigentlich, dass Mord und Totschlag verjähren können? Oder anders gesagt: Es gäbe noch einige markante Vergehen, die man einmal hinterfragen müsste…

    Das Opferhilfegesetz gibt es erst seit anfangs der 1990er Jahre und wurde per 01.01.2009 revidiert. Oder anders gesagt: Für diesen Teilbereich betreffend Opfer gibt es noch kein allzu langes Bewusstsein.

    Darum kann es auch nicht erstaunen, wenn unser Rechtssystem immer noch nur Täter bestraft (mit für uns oftmals unverständlich milden Strafmassen), es jedoch keine «Verhandlung» gibt, bei welcher die Optik der Opfer im Zentrum steht… 🙁

  18. Meiner Meinung nach macht eine Verjährung (egal welches Verbrechens) durchaus Sinn:

    – Beweise sind mit der Zeit immer schwieriger zu erhalten/finden: der Fall wird unaufklärbar
    – irgendwann sollte die Strafuntersuchungsbehörde von alten, unaufklärbaren Fällen befreit werden
    – wenn es keine Verjährung gäbe, müssten die Behörden noch Täter von Taten suchen, die 1889 begangen wurden.

    Über die Fristen kann man durchaus diskutieren.

  19. Durch eine Verjährung werden Nicht-Opfer dann halt zu Nicht-mehr-Opfern. Nur: Was dem Täter hilft, hilft dem Opfer in keiner Weise. Es kann nicht plötzlich nach x Jahren sagen: Bin kein Opfer mehr. Je nach Tat trägt ein Opfer ein Leben lang daran.

    Ich bin nicht religiös und kann deshalb nicht sagen, ob das mit dem Vergeben und Vergessen im religiösen Sinn funktioniert. Ich weiss nur: Wenn mir einer eins meiner Kinder nähme, gäbe es keine Verjährung. Nie. Ich gehe sogar so weit wie Chris weiter oben: Ich könnte für nichts garantieren.

    Ich war nie Opfer. Aber ich denke, es ist sehr wichtig, als Opfer wahr- und ernstgenommen zu werden. Es muss sehr schlimm sein, das Gefühl zu haben, der Täter käme ziemlich gut weg, während man an seiner Last beinahe zugrunde geht.

    Wie schon geschrieben: Es gibt das Gesetz und das Recht und irgendwo noch irgendwelche Konventionen. Das hat alles seinen Grund und seinen Sinn und ohne das alles wäre ein Staat ein barbarischer Staat. Aus der subjektiven Warte eines Opfers ist das alles aber nur sehr schwer auszuhalten. Manchmal auch aus der subjektiven Warte einer Unbeteiligten. Ich gestehe: Wenn die Rechte manchmal von Kuscheljustiz faselt, wird mir zwar ob des Begriffs schlecht, aber von der Sache her habe ich sehr viel Verständnis für die Forderung nach einer härteren Gangart.

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