Massen bewegen

Wie bewegt man Massen? Wie bewegt sich die Masse? Und wie bewegt man sich in der Masse?

Bei der tragischen Massenpanik in Duisburg wurden in den Medien die Schuldigen schnell gefunden: Es sind all jene, welche für die Organisation und die Umsetzung des Sicherheitskonzepts zuständig waren.

Allerdings – und das mag für einige wie Hohn klingen – todgetrampelt, erdrückt oder verletzt wurden die Opfer nicht durch die für die Sicherheit zuständigen Personen. Es war vielmehr die Masse, die ungewollt plötzlich zum tödlichen «Instrument» wurde.

Auch eine Charakterfrage (?)

Die Masse, das ist so ein anonymes, unfassbares und sich ständig veränderndes Ding, zu welcher wir je nach Zeitpunkt und Ort alle gehören können.

Sie ist für das einzelne Individuum eine bequeme Sache, denn sie erlaubt, die Verantwortung für sich und die Verantwortung gegenüber den anderen «Teilnehmern» der Masse abzugeben – an wen auch immer. Das Individuum zählt nicht mehr.

Zugeben würde das zwar niemand. Befragte man jeden Einzelnen, ob er einverstanden damit sei, dass er zu seiner Sicherheit nichts mehr zu sagen hätte, sondern quasi eine «höhere Macht» dafür sorge, würden sich wohl einige dagegen wehren, wenigstens verbal. «Ich kann doch selber für mich sorgen!», so in etwa der Tenor.

Handeln tut aber niemand danach. «Man» ist ja Teil eines grossen Ganzen und lässt sich gehen, treibt mit der Masse mit, vergisst sich und die einzelnen Anderen, unter möglichem Einfluss von Alkohol und Drogen sowieso…

Trotz Fehlleistungen seitens Organisatoren: Vor hundert Jahren wäre es in Duisburg an der gleichen Stelle unter den gleichen baulichen Voraussetzungen und mit der gleichen Anzahl Menschen nicht zur Katastrophe gekommen.

Das hat auch mit Anstand zu tun. Man hätte Abstand zueinander gehalten, Körperkontakt wäre gar tabu gewesen, und man hätte mit der nötigen Distanz zum Vordermann ausgeharrt, bis es weitergegangen wäre.

Doch heute, heute drängelt man, mehr oder weniger und auf die eine oder andere Weise. Und zwar überall: Beim Einsteigen in den Zug, auf der Autobahn, an der Kasse des Einkaufsgeschäfts, an der Kinokasse, bei der Einfahrt ins Parking des Kaufhauses usw.

Man hat keine Geduld mehr, weil man auch keine Zeit mehr für nichts hat – man könnte sonst ja etwas verpassen. Und wenn es «da vorne» halt nicht weiter geht, drückt man etwas, so ganz nach dem Motto, dass dieser Druck dann schon irgendwo nachgibt…

Man konnten in den vergangenen Tagen unzählige «Zeugen» mit ihren Erlebnissen und teilweise verzitterten Handy-Videos hören und sehen. Keiner von ihnen will gedrängelt haben (bis anhin hat auch noch kein Journalist danach gefragt) und vor allem ist auch keiner von ihnen auf jemanden drauf getreten.

Alle von ihnen, es müssen einige Tausend gewesen sein, haben natürlich anderen sofort geholfen und Erste Hilfe geleistet – oder so ähnlich…

Ja, es wurden organisatorische Fehler gemacht, welche dazu führten, dass einzelne Individuen wortwörtlich in die Enge getrieben wurden.

Aber – provokative Frage – kann man seinen Kopf beim Eingang einer Massenveranstaltung einfach so abgeben und sich stattdessen nur dem Herdentrieb überlassen?

Massen en masse

Wir als einzelne Individuen sind zunehmend Teil einer Masse. Züge werden beispielsweise nicht mehr nur ein-, sondern zweistöckig geführt und Perrons werden verlängert. Sie fahren auch so häufig wie noch nie zuvor und leeren und füllen damit permanent die Bahnhöfe mit neuen Massen.

Die jüngsten Flugzeuge von Airbus oder Boing sind darauf ausgelegt, so viele Menschen zu transportieren wie noch nie zuvor. Und auch Einkaufszentren werden immer grösser und bombastischer.

Jede Sporthalle, wenn sie denn nicht gleich ganz neu und damit quasi automatisch auch grösser gebaut wird, wird vergrössert. Gleiches geschieht mit Veranstaltungsarenen wie beispielsweise dem Hallenstadion. Auch internationale Sportveranstaltungen wie Weltmeisterschaften oder die Olympischen Spiele ziehen immer mehr Massen an.

Selbst der Bundesrat liess sich beim Bundesratsföteli für 2008 in einer Menge ablichten (Quelle: bundesrat.ch.).

In Zürich entsteht zurzeit das höchste Hochhaus der Schweiz. Auch darin finden neue Massen Platz. Ohnehin wird überall so platzsparend wie nur irgendwie möglich gebaut oder umgerüstet, damit noch mehr Menschen Platz finden. Im Fachjargon nennt sich diese Förderung neuer Massen «den Raum verdichten».

Unternehmen reorganisieren sich und legen dabei gewisse Bereiche an einem zentralen Ort zusammen. Die bisherigen, eher kleinen und dezentralen Abteilungen werden so zu einer gemeinsamen grossen Masse.

Gemeinden werden zusammengelegt, ebenso deren Organisationseinheiten, von der Verwaltung über die industriellen Betriebe bis hin zu den Blaulicht-Organisationen. Damit entstehen auf institutioneller Ebene neue Massen.

Kurz: Es ist in unserer Zeit vieles darauf ausgelegt, immer noch mehr Menschen «in einem Aufwisch» behandeln, bedienen oder beliefern zu können. Tendenz steigend. Wer das nicht will, bezahlt einfach mehr für die «Einzelbehandlung».

Damit umgehen lernen

Massen sind normal geworden. Wir verdanken sie einer schleichenden und folglich kaum wahrgenommenen Entwicklung.

Haben wir aber gelernt, damit umzugehen, also immer häufiger Teil einer beliebigen Masse zu sein? Kann man beispielsweise irgendwo «auf dem Trockenen» lernen, ob man innerhalb einer Masse unter Platzangst leidet?

Nehmen wir die Symbole für Notausgänge wahr und kennen wir diese überhaupt? Lernen wir irgendwo, uns in Geduld zu üben, selbst in Stresssituationen? Und wie reagieren wir allgemein in Stresssituation? Denken wir dabei sofort ans Prinzip «Frauen und Kinder zuerst» – oder an uns selbst?

Was alle bereits als Kind lernen sollten (Quelle: bebixeld.de).

Und denken wir tatsächlich, dass unsere Verantwortung an der Haustüre aufhört und für alles, was danach folgt, immer «irgendjemand» verantwortlich sein muss, den man im «Bedarfsfall» an den Pranger stellen kann?

Wenigstens gedanklich sollten wir uns wohl stärker mit uns als Teil einer Masse und mit unserer Verantwortung innerhalb dieser Masse auseinandersetzen. Seltener wird das Phänomen «Masse» in naher Zukunft nämlich kaum.

Und niemand will schliesslich morgen zu jenen gehören, welche – natürlich völlig ungewollt – anderen Schaden zugefügt haben.

7 Antworten auf „Massen bewegen“

  1. Ich habe bedrohliche Situationen in Konzerten in der ersten Reihe erlebt (ein Grund, weshalb ich mich jahrelang von diesen ersten Reihen ferngehalten habe). Das Problem ist, dass die Masse hinten gar nicht so arg drückt, weil es aber vorne nicht mehr weiter geht, erhöht sich der Druck massiv (ich hing in der Luft, Füsse nicht mehr auf dem Boden, mit der ganzen Masse schwankend). Sprich: Hinten ist man sich nicht bewusst, was man anstellt und wenn man mitten drin ist, hat man keine Chance, schon gar keine Chance, Rücksicht zu nehmen, weil man nichts mehr selber lenken kann, sondern hilflos gelenkt wird.

    Empfehlenswert dazu dieses Interivew in er NZZ von heute:
    http://www.nzz.ch/nachrichten/panorama/nicht_aus_uebermut_oder_unachtsamkeit_niedergetrampelt_1.6972340.html

    Ein Zitat daraus:
    „Abschliessend ist anzumerken, dass die Teilnehmer andere nicht aus Übermut oder Unachtsamkeit niedertrampeln oder zerquetschen, sondern weil sie im Gedränge ihre eigene Bewegungen nicht mehr genügend kontrollieren können. Durch das Geschubse infolge der sich aufsummierenden Kräfte hat jeder genug damit zu tun, sich selber auf den Beinen zu halten und weiterhin genügend Luft zu bekommen.“

  2. Aber warum muss «man» denn immer drücken, egal wie arg das geschieht? Wenn es nicht weiter geht, geht es nicht weiter. Hier drückt man schliessich nicht ein Material durch eine Verengung wie eine Paste in der Patisserie, sondern es werden bewusst Menschen gedrückt und das schon bevor sich unsere niederen Instinkte sich einschalten und reflexartig reagieren.

  3. Wenn der Erfolg da ist, d.h. der Zustrom an Menschen nicht endet, dann entwickelt sich IMMER Druck. Frau Relax und ich haben dies 1 x mehr am Züri-Fäscht 2009 erlebt. Auf der Münsterbrücke ging nichts mehr. Wir waren noch nicht auf der Brücke als nichts mehr ging und konnte mit 3 – 4 Meter zurück drängen und dann seitwärts ausbrechen, auf dem Stadthausquai zm Bürkliplatz/See laufen. Es war schlicht kein Genuss mehr vorhanden das Festgelände zu begehen. Dies war der Grund warum Frau Relax vor wenigen Wochen auf das Züri-Fäscht 2010 verzichtet hat, gegen Eintausch von einem gemütlichen Abend im eigenen Garten. Dass dies ein richtiger Entscheid war, hat Sohn Relax am nächster Tag mit der Info bestätigt, dass schon am frühen Freitag Abend ab Bahnhof Enge, nur noch Schritte im Rhythmus der Masse möglich waren.

  4. Uh, das finde ich jetzt einen ganz schlechten Artikel. „Früher war alles besser“ funktioniert einfach nie.

  5. «Früher war alles besser» ist auch nicht die Aussage des Artikels. Er zeigt lediglich anhand der Vergangenheit auf, wie sich die Gesellschaft verändert hat. Dazu gehört auch, dass wir uns zunehmend in Massen bewegen ohne je gelernt zu haben, wie wir uns darin (richtig) bewegen sollen/müssen.

    Dass wir uns auch (aber nicht ausschliesslich) an Vergangenem orientieren, würde ich nicht missen wollen. Es erlaubt nämlich auch, aus früheren Fehlern zu lernen oder sich für Bewährtes (weiterhin) stark zu machen.

    Dies ist übrigens auch ein Kritikpunkt an der Loveparade: Weil diese in den letzen Jahren jedesmal an einem anderen Ort stattfand, konnte man sich kaum auf etwas Bewährtes abstützen.

  6. Besten Dank für den Hinweis.

    Vergangenen Samstag erlebte ich selber eine ähnliche Situation am Bielersee-Fest: Die kleine Bogenbrücke zwischen Hafenbecken und Expo-Gelände wurde zum Nadelöhr und dies rund 30 Minuten nach dem Feuerwerk. Nichts ging mehr, die Besucherströme verliefen in beide Richtungen und blockierten sich gegenseitig.

    «Ächli moschtä» und ähnliche Parolen konnte ich links und rechts von mir hören – denen war es offensichtlich egal, wer da halbwegs zerdrückt wurde… Nachdem ich es leid war, ständig gegen den Hintermann zu drücken, schloss ich mich schliesslich einer entgegenkommenden Gruppe an, welcher ein Fortkommen doch gelungen war, und kehrte somit wieder um.

    Ich war nicht der Einzige, der unten mit den Bildern von Duisburg im Kopf nur noch den Kopf schüttelte. Das bestätigte mir, dass es eben auch die Ungeduld der Leute ist, um möglichst bald von A nach B zu gelangen – koste es was es wolle… Da kommen Psychologie (Ungeduld) und Physik (Drängeln) wohl zusammen.

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