Sommerkrimi: «Nebel über Seenried» (7)

Eine neue Spur

Mittwoch, 27. Mai 2009

Es ist ein unauffälliger Wohnblock, einer jener Sorte, welche in den 1970er Jahre wie Pilze aus dem Boden schossen, vor dem Hürlimann nun steht. Er befindet sich an jener Adresse in Lyss, welche ihm die Dame von der telefonischen Auskunft angab.

Er nähert sich dem Eingang mit den Namensschildern, den Türklingeln und der Gegensprechanlage. Die Eingangstüre selbst ist verschlossen. Doch immerhin scheint es hier gemäss Namensschilder tatsächlich einen Benjamin Luginbühl zu geben.

Wenn auch hier gilt, was ein ungeschriebenes Schweizer Gesetz besagt, dann wohnt er im dritten Stock, denn Luginbühls Name steht an viertunterster Stelle, das Erdgeschoss dazugerechnet. Er blickt nach oben und sieht überall im dritten Stock Licht.

Soll er klingeln? Was soll er ihm via Gegensprechanlage sagen, damit dieser die Tür öffnet? Die Frage erübrigt sich augenblicklich, als ein anderer Bewohner das Haus verlässt und Hürlimann diese Gelegenheit der momentan offenen Eingangstür nutzt, um ins Gebäudeinnern gelangen zu können.

Im dritten Stock angekommen findet er schnell die Wohnung mit dem Namensschild Luginbühls. Er klingelt. Irgendwo von unten hört er zwei Leute miteinander streiten. Doch er hört auch Geräusche hinter der fraglichen Wohnungstüre. Es muss jemand da sein.

Den Finger zum zweiten Mal an die Klingel gesetzt, aber noch nicht gedrückt, öffnet sich schliesslich die Tür und dahinter erscheint eine Person, welche zur Beschreibung passt. Dann geht alles blitzschnell: Der junge Mann will die Türe sofort wieder schliessen, doch Hürlimann ist schneller und stellt einen Fuss zwischen Rahmen und Türblatt.

«Was wollen Sie?», fragt der Mann hinter der Türe in müdem Ton, so als ob er nicht mehr kämpfen mag.

«Ich bin privater Ermittler und hätte einige Fragen an Sie.»

Der Dunkelhaarige gibt nach, läuft ins Wohnzimmer und überlässt es Hürlimann, die Türe ganz zu öffnen, einzutreten und sie wieder zu schliessen.

«Wieso denn diese Reaktion?», will der 55-Jährige von ihm wissen.

Luginbühl hat sich inzwischen mit gesenktem Kopf an seinen Esstisch gesetzt. «Ich dachte, Sie seien jemand anderer. Jemand, von dem ich hoffte, ich würde nie wieder etwas mit ihm zu tun haben.»

«Wen meinen Sie?»

«Ich weiss es auch nicht genau. Ein paar Männer, mehr weiss ich nicht.» Luginbühl ist jetzt den Tränen nahe.

«Hat es mit den Ereignissen im Intercity vor Fribourg zu tun?»

Luginbühls Kopf hebt sich. «Was wissen Sie darüber?»

Hürlimann hat definitiv den richtigen Mann vor sich. «Alles», antwortet er ihm, und als ihn ein noch misstrauischeren Blick trifft, erklärt er, von wem er «alles» weiss. Das beruhigt den jungen Mann, denn nebst ihm wussten nur die Angreifer und der ältere Herr im Bistro des Bahnhofs Fribourg davon. So senkt er wieder seinen Kopf.

«Erzählen Sie mir doch Ihre Version des Vorfalls. Jedes Detail ist wichtig», bittet ihn Hürlimann.

Luginbühl holt tief Luft und legt los. Er erzählt, wie er an seinem freien Tag das Schloss Gruyères besuchen wollte, wie er sich verschlafen hatte und darum eine Stunde später unterwegs gewesen sei, wie er umständlich über Biel, Bern, Fribourg und Bulle hätte fahren sollen und wie er dann kurz vor Fribourg von einem Mann festgehalten wurde.

Hürlimann unterbricht ihn: «Sie sind also erst in Bern in diesen Intercity gestiegen?»

«Ja natürlich! Hätte ich denn zuerst nach Zürich fahren sollen?», fragt Luginbühl sarkastisch nach.

«Und ist Ihnen in Bern etwas Besonderes aufgefallen?»

Er schüttelt mit dem Kopf und doppelt noch verbal nach: «Nicht dass ich wüsste. Es war auf dem Perron ein ziemliches Gedränge, einerseits weil viele Leute ausstiegen und andererseits weil viele Gruppen unterwegs waren.»

«Wissen Sie denn noch, wer um sie herumstand?»

Luginbühl schüttelt sofort den Kopf, doch dann wird sein Gesicht nachdenklich. «Jetzt wo Sie danach fragen…» und überlegt noch einmal. «Ja, da stand ein Mann hinter mir, fast so als ob er sich hinter mir verstecken wollte. Als ich mich einmal zu ihm umdrehte, blickte er weg.»

Nach kurzem Zögern fährt er fort: «Er passte ohnehin irgendwie nicht da hinein, erschien irgendwie verloren. Als der Zug kam – und dann doch alle zu den Eingängen strömen – blieb er stehen. Dann habe ich auf ihn nicht mehr weiter geachtet und stieg in den Zug.»

«Ist Ihnen auch etwas im Zug aufgefallen, bevor Sie angegriffen wurden?»

Erneut, wenn auch zögerlicher, schüttelt Luginbühl den Kopf. «Nein. Der Zug war wegen den vielen Gruppen ziemlich voll, Sitzplätzen waren kaum frei. Ich bin deshalb für die kurze Strecke nach Fribourg unten beim Eingang des Doppelstockwagens stehen geblieben. Da standen auch nur einige Koffer herum, welche wohl irgendjemand nicht in die obere Zugsetage oder bis zu seinem Platz tragen wollte.»

«Als Sie angegriffen wurden, haben die beiden Männer miteinander gesprochen? Wurden Namen genannt?»

«Eigentlich nicht. Nur als der Eine meine Tasche durchwühlte und offensichtlich nicht fand, wonach er auch immer suchte, gab er von sich: ‚Verdammt, da ist nichts. Ich finde die Bank nicht.»

«Die Bank?», wundert sich Hürlimann ob diesem Begriff.

«Ja, es klang so wie ‚die Bank’. Ich konnte mir bis heute darauf auch keinen Reim machen, denn meine Brieftasche – das einzige, was irgendwie mit einer Bank zu tun haben könnte – haben sie mir nicht abgenommen.»

«Merkwürdig», brummelt Hürlimann nachdenklich vor sich hin, geht dann aber zur nächsten Frage über: «Haben Sie die Männer noch einmal zu Gesicht bekommen, nachdem Sie sich losreisen konnten?»

«Ja, das heisst, nein.» Luginbühl schenkt seinen Kopf hin und her und präzisiert: «In Fribourg nicht mehr, da bin ich zusammen mit einer Reisegruppe ausgestiegen. Zwar haben die beiden wahrscheinlich nach mir Ausschau gehalten, doch ich glaube nicht, dass sie mich gesehen haben, schliesslich trug ich auch mein Baseball-Cap.»

«Aber?»

«Aber…», der rund 30-Jährige holt nochmals tief Luft, «…drei Tage später war meine Wohnung in Twann verwüstet.»

Diese überraschende, neue Tatsache muss Hürlimann erst einmal verdauen, bevor er nach einigen Sekunden weiter fährt: «Als ich die Türe zu meiner Wohnung aufmachte und das Chaos auf dem Boden sah, wurde mir plötzlich schwarz vor Augen.»

«Weil Sie emotional überfordert waren – oder aus einem anderen Grund?», bohrt Hürlimann  nach.

«Das weiss ich nicht genau. Der blaue Fleck an meinem Hinterkopf hätte auch vom Hinfallen kommen können, denn als ich aufwachte, lag ich auf dem Rücken.»

Erneut braucht Hürlimann einige Sekunden, denn für ihn ist klar, dass Luginbühl niedergeschlagen wurden. In was sind Luginbühl und er da bloss geraten, fragt er sich im Stillen. «Haben Sie deshalb von einem Tag auf den anderen ihre Zelte in Twann abgebrochen?»

«Genau», fällt seine Antwort kurz und knapp aus.

«Und Sie glauben, die Männer, welche Ihre Wohnung in Twann durchwühlten waren die gleichen wie jene, welche Sie im Zug angriffen?»

«Es hat in meiner Wohnung nichts gefehlt. Wozu sonst sollte jemand eine Wohnung durchwühlen?», fragt er zurück. «‚Die’ haben nach etwas gesucht.»

«Wie konnten diese Männer sie überhaupt finden?»

Luginbühl zuckt mit den Schultern. «Vielleicht über die Videoüberwachung in den Bahnhöfen?»

«Sie meinen über diese Knubbel, die da überall an der Decke hängen?» vergewissert sich der technisch nicht sehr versierte Hürlimann.

«Genau. ‚Die’ können doch überall verfolgen, wo man ein- und wieder aussteigt. Selbst in einigen Zügen, so wie diese grün-grell-blauen, sind Kameras drin.» Hürlimann erstarrt beim Gedanken, wie er gefilmt wurde, als er vor kurzem von Hand Änderungen in seinem Kursbuch anbrachte…

«Und wenn ‚die’ einmal die Spur bis nach Twann zurückverfolgt haben, ist es ein Leichtes, jemanden dort ausfindig zu machen. Sie haben mich schliesslich ja auch gefunden», schliesst Luginbühl seine Theorie ab.

«Ist Ihnen auch nie aufgefallen, dass Sie etwas zu viel haben, dass Sie etwas bei sich tragen, das nicht Ihnen gehört?»

«Nein. Ich hatte ja bereits in Fribourg alles überprüft. Da war nichts dabei, das nicht mir gehörte.»

Bei Hürlimann macht sich inzwischen Ratlosigkeit breit. Zwar hat er viel Neues erfahren, doch seine bisherige Spur entwickelt sich langsam zu einer Sackgasse.

«Die Bank» ist höchstwahrscheinlich jenes Objekt, nach dem sein Auftraggeber – oder seine Auftraggeberin – sucht und von dem er immer noch nicht weiss, worum es sich handelt. Wo sollte er nun weiterfahren?

«Ausser…», meldet sich Luginbühl noch einmal zu Wort, steht auf und öffnet die Schublade eines Möbels, «…diesen Papierschnitzel», den er dem Möbel entnimmt und in die Höhe hält. «Der lag am Boden zwischen meinen Sachen und hat wohl einer der Eindringlinge verloren.»

Hürlimann nähert sich ihm und nimmt den Papierfetzen – es scheint die rechte Ecke eines Dokuments zu sein – in seine Hand. Darauf erkennbar sind einzig die Buchstabenfolge «erein», darunter «nried», gefolgt von einer schwarzen Linie, welche wenige Millimeter vor dem Blattrand endet und vermutlich über die ganze Blattbreite verlief. Was davor stand, scheint abgerissen worden zu sein.

Zudem wirkt das Papierstück ziemlich verwaschen und abgetreten. Die Rückseite enthält nichts, ausser einer klebrigen Masse.

«Es sieht fast danach aus, als ob da jemand in einen Kaugummi getreten ist und ungewollt eine Spur in Ihrer ehemaligen Wohnung hinterlassen hat», meint Hürlimann, und fragt schliesslich noch nach: «Darf ich das an mich nehmen?»

Luginbühl nickt, woraufhin der private Ermittler den Schnipsel einsteckt.

Es ist spät geworden, sodass sich Hürlimann verabschiedet, nachdem er noch seine Visitenkarte abgegeben hat – für den Fall, dass ihm noch etwas einfalle, meint er vertrauenswürdig zu Luginbühl.

Teil 8: «Ein Schuss ins Schwarze».

Über diesen Beitrag

Währenddem in der Augenreiberei normalerweise Tatsachen dominieren, ist «Nebel über Seenried» für einmal eine erfundene Geschichte – ohne Anspruch auf einen literarischen Höhenflug, dafür aber mit einem kräftigen Augenzwinkern.

Die Geschichte stützt sich auf die hier via Kommentarfunktion mitgeteilten Ideen sowie auf gewisse wahre Begebenheiten ab. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion sind teilweise fliessend.

Alle Personen sowie die Ortschaft «Seenried» sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen oder mit «Seenried» können nicht ausgeschlossen werden… 😉

Einen Überblick über die verschiedenen Personen und Organisationen liefert diese Seite.

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