Weltmeisterschaften, Talentshows, Lotterien, Wettbewerbe, Wettkämpfe zwischen Vereinen, berufliche Karrieren – ja eigentlich das gesamte Leben zielt darauf ab, aus Menschen Gewinner zu machen. Ob das ein guter Ansatz ist?
Die Fussball-Weltmeisterschaft in Südafrika ist vorbei und der Weltmeister für die nächsten vier Jahre ist mit Spanien erkoren. Auch wenn etwas Glück und manchmal auch Pech mit dazu gehören – und auch wenn wir Schweizer die Spanier wohl auch mit etwas Glück und für die Spanier mit etwas Pech geschlagen hatten – mussten sich die Südeuropäer ihren Sieg doch auch erkämpfen.
Gespielt, und damit ebenfalls gekämpft, haben Mannschaften aus insgesamt 32 Ländern. Rein rational betrachtet ist die Bilanz dieser Fussball-WM genau gleich ernüchternd wie alle bisherigen Weltmeisterschaften: Eine Mannschaft gehört zu den Gewinnern, 31 zu den Verlierern.
Überall viele Verlierer
Doch so ist es mit vielem in unserer Gesellschaft. Wer Lotto spielt, braucht dafür zwar nicht sonderlich zu kämpfen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Lottospieler aber zu den Gewinnern gehört, ist relativ klein. Einer tippt sechs Richtige und gewinnt, Tausende tippen falsch und gehören zu den Verlierern.
Überall dort, wo es Ranglisten gibt, wo Punkte oder Stimmen vergeben und nach deren Anzahl aufgelistet werden, gibt es immer einen Gewinner – und sehr viele Verlierer. Rein rational betrachtet.
Selbst für mehr oder weniger offizielle Bundesratskandidaten, von denen es für zwei Sitze zurzeit so gegen zwanzig gibt, gilt dieses Prinzip: Nur zwei werden zu den Gewinnern gehören, alle anderen haben das Nachsehen.
Wo immer Sie auch hinschauen – achten Sie sich doch einmal darauf – sehr vieles in unserem Alltag läuft immer auf genau dieses Prinzip hinaus: Es gibt einen Gewinner, aber jede Menge Verlierer.
Neu ist das nicht, sondern wird schon seit Jahrhunderten so «praktiziert». Sie können sich dazu irgendeine Schlacht im Mittelalter vorstellen. Auch da gab es nach offizieller Darstellung schon immer nur einen Gewinner, damals allerdings auch nur einen Verlierer (vorausgesetzt es gab keine Bündnisse).
Nach inoffizieller Darstellung gibt es jedoch weit mehr Verlierer, nämlich all jene, welche gefallen sind – egal für wessen Seite sie kämpften. Jene, welche für die Gewinner-Seite gefallen sind, mögen zwar postum als Helden gefeiert werden. Aber das erweckt sie auch nicht mehr zum Leben…
«Demokratisiertes» Gewinnen?
Immerhin gilt für Gewinner heutzutage nicht mehr unbedingt das Prinzip «The winner takes it all». So bekommt auch derjenige etwas ab, der nur fünf Richtige im Lotto tippte. Und wer beim Riesen-Slalom «nur» Dritter wird, erhält trotzdem eine Medaille. Selbst bei den Olympischen Spielen gibt es bis zum achten Rang wenigstens noch ein olympisches Diplom. Immerhin.
Das macht die Sache etwas gerechter, nicht wahr? Man stelle sich vor: Wer sechs Richtige im Lotto tippt, bekäme auch das Geld all jener, die heute fünf, vier oder drei Richtige getippt hatten. Oder: Nur wer den Riesen-Slalom gewinnt, bekäme eine Medaille und könnte sich als Einziger feiern lassen. Links und rechts von ihm stünde niemand auf dem Podest. Wie ungerecht, wenn nur einer alles absahnt, oder? 😉
Machen wir uns nichts vor: Die Zahl der «Mit-Gewinner» oder der «Teil-Gewinner» ist und bleibt verschwindend klein. Der weitaus grössere Teil an Teilnehmern ist gezwungen, sich zu den Verlierern zu zählen – rein rational betrachtet.
Ob so vielen Verlierern muss die Frage erlaubt sein: Ist das für unsere Gesellschaft wirklich ein guter Ansatz, immerzu nach Gewinnern zu verlangen und dabei mehr Verlierer als Gewinner zu «hinterlassen»?
Ist die Aussicht, praktisch von Geburt an ständig zu unzähligen Gruppen von Verlierern zu gehören, auf Dauer nicht frustrierend? Müssten wir da nicht in eine Art kollektive Depression verfallen? Warum tun wir es dann nicht? Oder leben wir vielleicht doch in einer kollektiven Depression, nur merken wir davon nichts?
Eine einfache Antwort gibt es auf diese Fragen vor allem auch deshalb nicht, weil wir das Gegenteil nicht kennen, also weil wir ein Umfeld, bestehend aus mehr Gewinnern als Verlierern, nicht kennen – oder davon vielleicht nichts merken…
Wenig bedachte Seiten
Als gesichert dürfte gelten, dass solche Wettläufe um den ersten Platz für viele ein Motivationsfaktor sind, der sie dank ihrem Ehrgeiz erst richtig antreibt. Wer möchte denn nicht der Beste, Schönste, Schnellste, Klügste und Überragendste sein?
Die Sache hat allerdings zwei Haken. So gehört zum Einen niemand gleich von Anfang an zu den Gewinnern. Vielmehr musste jemand vorher «viele schmerzliche Niederlagen einstecken» oder «eine lange Durststrecke zurücklegen», wie das dann jeweils so schön heisst.
Sehr vielen sind es irgendwann zu viele Niederlagen oder sie haben inzwischen einen zu grossen Durst, als dass sie weitermachen mögen – und geben in der Folge auf oder verabschieden sich desillusioniert von der ursprünglichen, glamourös erscheinenden Ambition.
Andererseits hat der Status «Gewinner» nur eine sehr kurze Lebensdauer. Kaum ist man «oben» angekommen und kaum ist die Feier dazu abgeklungen, gilt es, sich immer wieder neu zu bewähren. Oder aber man überlässt das Feld anderen, jüngeren «Gewinnern», die irgendwann aufschliessen, währenddem man selber zurückfällt.
Lohnt es sich da überhaupt, ständig nach dem Gewinner-Status zu streben? Ist es die Mühe wert, nur um einen relativ kurzen Moment lang zu den Gewinnern zu gehören?
Und wie ist das eigentlich, wenn man nur den zweiten Platz erreicht, wenn man nur das Reserve-Rad spielt oder wenn man nur als zweitbeste Wahl gilt?
Kampf um Anerkennung
Das hängt wohl davon ab, was man selber, aber auch was andere von einem für Erwartungen haben und ob man selber in der Lage ist, den zweiten oder dritten Platz als ersten Platz anzuschauen.
Für die Schweizer Fussballmannschaft, durch den jahrelang ausbleibenden Erfolg an EM- und WM-Spielen bescheiden geworden, wäre schon das Erreichen der Viertelfinalspiele fast so eine Art Weltmeister-Titel gewesen.
Demgegenüber wurde das sehr frühe Ausscheiden Italiens und Frankreichs eher als eine Schmach betrachtet, hatte man von diesen doch mehr erwartet. Eben, es geht hier um Erwartungen.
Und hinter diesen Erwartungen geht es um Anerkennung. Alle, die danach streben, zu den Gewinnern zu gehören, kämpfen schliesslich vor allem um Anerkennung. Dabei muss sich diese Anerkennung nicht bloss auf die Direktbetroffenen beziehen, sondern kann sich auch auf alle beziehen, die sich mit ihnen emotional verbunden fühlen.
Bleiben wir als Anschauungsbeispiel beim Fussball: In Frankreich führte das schlechte Abschneiden der französischen Mannschaft zu viel Empörung und wurde zur Regierungssache erklärt. Schlechte Vorbilder seien sie gewesen, die Fussballspieler, einer «grande nation» wie Frankreich nicht würdig.
Im Gegensatz dazu war der Sieg Deutschlands über Ungarn an der Fussball WM 1954 in Bern eben auch mehr als nur ein Sieg einer Mannschaft über eine andere. Nachdem die Deutschen über Jahrzehnte hinweg zu den Geächteten gehörten, tat dieser Sieg und die damit verbundene Anerkennung der deutschen Volksseele gut.
Die Anerkennung ist das Einzige, das nicht so schnell verfliegt wie das einmalige Erreichen einer Spitzenposition, welche für einen kurzen Moment lang jemanden zu einem Gewinner macht.
Das Prinzip «Hoffnung»
Die Hoffnung auf Anerkennung ist auch ein Grund – vielleicht sogar der einzige – weshalb wir, die wir ständig auf der Suche nach Anerkennung sind – uns trotz unzähliger Niederlagen all die Mühe auf uns nehmen, um hoffentlich zu einem Gewinner zu werden und um damit eben die entsprechende Anerkennung zu ernten.
Diese Hoffnung kann realistische Aussichten auf Erfolg aber auch vernebeln. Manche brauchen länger und manche weniger lang um festzustellen, dass sie nie zu Gewinnern gehören werden.
Das kann eine sehr schmerzliche Erfahrung sein. Stellen Sie sich vor, jemand richtet sein ganzes Leben darauf aus, in einer bestimmten Kategorie Gewinner zu werden – und schafft es dann nie unter die besten Zehn.
Denken Sie dabei nun nicht bloss an Sportler. Wir alle gehören zu diesem «Spiel» im Kampf um die Gewinner-Position und wir alle machen irgendwann in irgendeinem Bereich die Erfahrung, eben doch nicht zu den besten Geigenspielern, den besten Börsenhändlern, den witzigsten Gesprächspartnern, den erfolgreichsten Unternehmern usw. zu gehören.
Das ist niederschmetternd, enttäuschend, desillusionierend.
Das Ironische dabei ist, dass wir alle dazu beitragen, andere zu Gewinnern zu machen. Jeder von uns ist Teil der Messlatte. An dem, was wir erreichen, messen sich die Anderen, die Noch-Besseren. Und je grössere die Masse, die mitmacht, desto grösser die Anerkennung für den Gewinner.
«Unter Tausenden von Mitbewerbern hat er/sie es geschafft», heisst es dann, obschon es diese «Tausende» nicht gäbe, wenn wir nicht mitgemacht hätten.
Gegenbewegung möglich?
Was könnte man idealistischerweise dagegen tun, um aus dieser Spirale, auf welcher oben wenige Gewinner und unten viele Verlierer sitzen, einen Ausweg zu finden und um in dieser Leistungsgesellschaft den Einzelnen weniger zu einem Verlierer und dafür mehr zu einem Gewinner zu machen?
Weitere Gedanke zur Unterstützung der Diskussion:
- Sind wir immer nur «Verlierer» oder gehören wir auch manchmal alle gleichsam zu den Gewinnern, merken dies aber nicht mehr?
- Welchen Beitrag leisten die «Verlierer» gegenüber den Gewinnern?
- Womit wird jeder zu einem «Gewinner»?
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«Welchen Beitrag leisten die «Verlierer» gegenüber den Gewinnern?»
Na, sie machen die Gewinner erst möglich. Eine Fussballmannschafft MUSS ja verlieren, wenn eine gewinnt, ein Tennisspieler muss verlieren, damit der andere gewinnt u.s.w.
Das ganze ist auch gesellschaftlich übertragbar: Erfolg ist (in unserer Sichtweise) nur dann Erfolg, wenn möglichst viele andere weitaus „erfolgloser“ sind. Würden die alle die selbe Leistung erbringen wie der «Erfolgreichste» wäre sein Erfolg nichts besonderes mehr.
Erst die «Versager», die Glücklosen, lassen den Gewinner um so heller erstrahlen.
Besten Dank, Mia.
Demnach leisten die «Verlierer» mehr als ihrem Rang in der Rangliste entspricht? Und falls ja: Wie viel mehr? Letzten Endes mehr als der «Gewinner»?
Leider ist genau das (wie du schreibst) „… einmalige Erreichen einer Spitzenposition, welche für einen kurzen Moment lang jemanden zu einem Gewinner macht.“ die grosse Motivation, für dieses Ziel auch unerlaubte Mittel, sprich Doping, einzusetzen. Denn wenn man durch das Aufdecken eines Dopingfalls, nach 2 Jahren nachrückt und doch noch eine Medaille zugesprochen erhält, kann man sich nicht mehr wirklich freuen. Es hängt in unserer Gesellschaft leider zu viel vom entscheidenden Moment ab, wann eine Leistung erbracht wurde, ob regulär oder nicht. Sponsoren, Presse, Konsumenten verlangen eben „just in time“ – Erfolge.
Für kurze Zeit ein König zu sein, ist für viele ein tiefer Fall danach wert!
Aprospos kommt mir spontan die Weltrekord-Aktion des Schwimmers Roland Wagner in den Sinn, der auf halber Strecke umdrehte und wieder zum Start zurückschwamm:
«Wagner setzte ein künstlerisches Denkmal zu Ehren des kriegerischen neoliberalen Konkurrenzsystems und Leistungswahns.»
Mir persönlich geht das Interesse oder die Bewunderung für Spitzensportler komplett ab. Ich kann damit einfach überhaupt nichts anfangen. Wenn es um Hunderstelsekunden geht, die über Sieg oder Niederlage entscheiden, denke ich mir, werden wohl alle, die überhaupt auf diesem Niveau mithalten könne, sehr hart trainiert (oder gut gedopt) haben.
Und sie haben alle (das wird ja auch gerne betont) viele Opfer gebracht, sie haben auf andere Dinge zugunsten des Sports verzichtet. Das gilt auch für alle anderen Bereiche ausserhalb des Sports, Erfolg ist meist nur mit Verzicht in anderen Bereichen zu haben. Grosser Erfolg ist oft mit Ellbogen verbunden, schliesslich muss die Konkurrenz hinter sich gelassen werden.
Es gibt ja nicht umsonst das Bild des gefühlskalten Managers, der im profanen Alltag lebensuntauglich ist. Das ist keine «moderne Sage», das ist ja tatsächlich so, dass Menschen (vornehmlich Männer) die strikte auf solche Positionen hinarbeiten, oftmals keine Zeit und Musse haben, nebenher auch ihre Persönlichkeit zu entwickeln.
Da können die noch so „erfolgreich“ sein, wenn sie kein guter Vater/Ehemann/Freund/Mensch an sich sind, ist der Erfolg meines Erachtens nicht mehr ganz so glänzend. Aber das ist natürlich Ansichtssache.
Ob Verlierer oder Gewinner mehr oder weniger leisten,kann man so wohl nicht sagen, sie leisten «anderes». Hunderstelsekunden kann man messen. Ob jemand anderen ein guter Freund ist oder ein grossartiger Familienvater eher weniger.
Der «gefühlskalte Manager» ist vielleicht auch deshalb so, weil er kein anderes Bild kennt? Ich frage mich manchmal, ob hinter diesem Bild nicht genau gleich viel Unsicherheit (ver-)steckt wie bei vielen Nicht-Managern?
Ich glaube, man MUSS eifach so sein, um ganz „oben“ bestehen zu können. Es hängt sicher auch damit zusammen, dass, wer an die Spitze kommen möchte, eben keine Zeit hat, nachzudenken/zu leben/sich zu entwickeln. Bemerkung eines Headhunters kürzlich zu einer Freundin, die nach 1,5 Jahren Babypause wieder in den Beruf einsteigen möchte (sie war vorher bei einer bekannten Beratungsfirma): «Sie waren aber ganz schön lange weg vom Job».
Da gibts dann andere Anwärter, die dieses «Manko» eben nicht haben. Von der HSG ohne Zwischenhalt direkt die Karriereleiter hochgeklettert – da bleibt keine Zeit für was anderes und das merkt man dann einigen Leuten eben auch wirklich an.