Gefährliche Minderheiten-Sonderregelungen

Sieger der jüngsten Volksabstimmung ist nicht die SVP, sondern die Angst, welche gezielt und nicht zum ersten Mal anlässlich einer Abstimmung geschürt wurde. Gesiegt hat aber einmal mehr auch das Prinzip, Minderheiten mit Sonderregelungen ab- und auszugrenzen. Im Land der Minderheiten, auch deswegen Willensnation genannt, ist das eine gefährliche Tendenz.

Das Abstimmungsergebnis zur Ausschaffungsinitiative der SVP ist zwar eindeutig, gibt aber trotzdem Raum für Interpretationen. Dazu gehört beispielsweise die prozentuale Annahme oder Ablehnung der Initiative je nach Kanton in Bezug auf den Ausländeranteil.

Mit 9,42 Prozent gehört der Kanton Uri zu jenen Kantonen mit der geringsten Anzahl Ausländern in der Schweiz (Zahlen des Jahres 2009). Mit 61,3 Prozent Ja-Stimmenanteil steht Uri jedoch auf Platz 3 der Ja-Sager zur Ausschaffungsinitiative (vorläufiges Endergebnis).

Ähnlich sieht es im Kanton Appenzell Innerhoden aus. Der Ausländeranteil beträgt magere 10,01 Prozent, angenommen wurde die Ausschaffungsinitiative mit satten 65,7 Prozent. An dritter Stelle jener Kantone mit dem geringsten Ausländeranteil steht Nidwalden mit 10,73 Prozent und hier wurde die fragliche Initiative ebenfalls mit klaren 60,8 Prozent angenommen.

Ängste schüren

Auf der Gegenseite steht Genf mit einem Ausländeranteil von 38.71 Prozent. 55,7 Prozent der Stimmenden sagten in diesem Kanton Nein zur Ausschaffungsinitiative. Der Kanton Basel-Stadt mit 31,5 Prozent Ausländeranteil sagte mit 56,6 Prozent Nein zur SVP-Initiative. Und im Kanton Waadt mit 30,45 Prozent Ausländern stimmten 58,2 Prozent gegen die Initiative.

Nicht in allen Fällen gilt das Prinzip, dass je nach Höhe des Ausländeranteils die Zustimmung oder Ablehnung zur Initiative grösser oder kleiner war. Da spielen sicher auch noch andere Faktoren eine Rollen (wie beispielsweise im Tessin).

Aber ganz wegreden lässt sich die Tendenz nicht, dass, je mehr man mit Ausländern «konfrontiert» ist, desto geringer der Anteil derer ist, welche verurteilte Ausländer nach Verbüssung ihrer Strafe ausschaffen wollen. Oder umgekehrt: Je geringer der Ausländeranteil ist, desto eher will man die Betroffenen ausser Landes schaffen.

Damit zeigt sich, dass die Stimmenden nicht nach dem Betroffenheitsprinzip gestimmt hatten, denn logischerweise müssten jene Schweizer in Genf, Basel oder in der Waadt am ehesten von kriminellen Ausländern betroffen sein, die beiden Grenzkantone Genf und Basel erst recht. Umgekehrt hätten die Kantone mit geringem Ausländeranteil die Initiative den Bach hinunter schicken müssen, da sie ja kaum betroffen sind.

Vielleicht hat aber in den Kantonen, welche der Initiative zustimmten und einen hohen Ausländeranteil aufweisen, ganz einfach die dramatisierte Darstellung der Realität (manche nennen es auch Angstmacherei) seitens SVP nicht funktioniert. Wer ist denn am ehesten betroffen von kriminellen Ausländern wenn nicht jene Orte oder Kantone mit hohem Ausländeranteil?

Sollte trotzdem das Betroffenheitsprinzip gelten, dann haben die fraglichen Kantone deshalb die Initiative verworfen, weil sie sich gar nicht betroffen fühlten. Die Angstmacherei hat also dort funktioniert, wo man Ausländer am wenigsten gut kennt, hat aber dort nicht funktioniert, wo man sie am besten kennt. Eigentlich logisch, denn Angstmacherei stösst immer dort auf einen guten Nährboden, wo Unwissenheit vorherrscht.

Das zeigt sich auch, wenn man etwas in die Tiefe geht: Die Bezirke mit den Städten Zürich, Basel, Bern, Lausanne, Fribourg und Neuenburg haben alle die Initiative abgelehnt. In der Stadt Luzern wurde sie nur knapp mit 50,3 und in der Stadt St. Gallen mit 50,7 Prozent angenommen.

Zustimmung zur Ausschaffungsinitiative pro Bezirk (Quelle: Bundesamt für Statistik)

Nun könnte man vom klassischen Stadt-Land-Graben sprechen, doch so einfach ist es in diesem Fall nicht, denn: Bekanntlich ist der Ausländeranteil in den Städten höher als in den ländlichen Gebieten. Es geht also auch hier darum, dass dort, wo man täglich häufig mit Ausländern in Kontakt ist und sie deswegen auch gut kennt, die Ablehnung der Ausschaffungsinitiative grösser war.

Lerne: Es gibt ein Kraut, welches gegen derartige Vorlagen gewachsen ist. Es heisst «Aufklärung» und ist gezielt anzuwenden. Allerdings: Andere Kräuter spriessen zum Teil höher und entziehen dem Boden oftmals so viele Nährstoffe, dass den anderen Kräutern kaum mehr etwas übrig bleibt…

Sonderbehandlung für Minderheiten

Die Ausschaffungsinitiative erlaubt aber auch noch eine andere, eine inhaltliche Interpretation: Herr und Frau Schweizer sind offensichtlich bereit, unterschiedliches Recht für eine Minderheit gelten zu lassen.

Das Abstimmungsergebnis zur abgelehnten Steuergerechtigkeitsinitiative der SP geht in der Tendenz in eine ähnliche Richtung. Statt einer einheitlichen, nationalen Regelung für «Superreiche» hält man die kantonale Souveränität und damit die kantonal unterschiedlichen Steuerrechte hoch, welche eine Minderheit von Steuerpflichtigen und eine Minderheit der Kantone privilegiert.

Auch das Bauverbot von Minaretten, über welches das Schweizer Stimmvolk vor einem Jahr abstimmte, geht in diese Richtung: Für eine bestimmte Minderheit, in diesem Fall eine religiöse Minderheit, sollen nicht die gleichen Rechte gelten, soll also in diesem Fall nicht das gleiche Recht um religiöse Symbole gelten.

Ausschaffungsinitiative, Steuergerechtigkeitsinitiative, Minarettverbotsinitiative – in allen drei Abstimmungskämpfen wurde auch mit verbal erhobenem Zeigefinger mit Ängsten argumentiert:

  • Wenn die kriminellen Ausländer nicht ausgeschafft werden, dann bleibt die Schweiz unsicher.
  • Wenn die Steuergerechtigkeitsinitiative angenommen wird, dann drohen allen höhere Steuern, weil die Reichen wegziehen würden.
  • Wenn das Minarettverbot nicht kommt, dann droht eine Islamisierung der Schweiz.

Besonders störend bei dieser Angstmacherei ist, dass damit Sonderrechte für Minderheiten weiter erhalten oder neue geschaffen werden, egal ob sie nun zu Gunsten (Kantone, Reiche) oder zu Ungunsten (Ausländer, Moslems) einer Minderheit sind.

Wie soll das weiter gehen? Was kommt als nächstes? Die Homosexuellen? Die Fahrenden? Die Sozialhilfe-Empfänger? Die ausländischen IV-Empfänger in der Schweiz? Die Analphabeten? Eine andere wenig bekannte Minderheit ohne eigene Lobby?

Ein gefährliches Spiel

Jedes Sonderrecht grenzt ab und in sehr vielen Fällen grenzt es leider auch aus. Wie soll da eine Integration von allerlei «Randgruppen» wie Ausländer, Sozialhilfe- und IV-Empfänger usw. gelingen, wenn schon rein rechtlich ausgegrenzt wird?

Viele scheinen auch vergessen oder noch nicht begriffen zu haben, dass wir ein Land mit vielen Minderheiten (oder eben Randgruppen) sind. Jeder von uns gehört manchmal zur einen oder anderen Minderheit. Selbst eine SVP hat keine Mehrheit und ist genauso wie die anderen Parteien in der Minderheit.

Erst das gemeinsame Zusammenraufen schafft Mehrheiten. Das wollen wir auch so, denn nichts widerstrebt der Schweizer Seele mehr als eine einzige, dominante Persönlichkeit oder Organisation. Das gehört schliesslich auch zu unserem Grundverständnis von direkter Demokratie, in welcher nicht der Einzelne, sondern die Masse entscheidet – welche sich aus Minderheiten zusammensetzt.

Wie aber können wir morgen noch zusammenleben und uns weiterentwickeln, wenn mittels Angstszenarien zunehmend Minderheiten mit Sonderrechten ab- und ausgegrenzt werden? Müssten wir nicht eher Angst davor haben, dass bald jeder von uns ausgegrenzt wird, weil jeder in irgendeiner Form zu einer Minderheit gehören kann?

Müssten wir nicht Angst davor haben, bald nur noch ein angepasstes Mainstream-Leben führen zu können um so zu verhindern, nicht zu einer Minderheit zu gehören? Wo bleibt da noch der in der Präambel zur Bundesverfassung geäusserte «Wille, in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben»?

Und müssten wir nicht Angst davor haben, dass Politik zunehmend durch Vermittlung von Angstszenarien statt von Zuversicht bestimmt und betrieben wird?

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12 Antworten auf „Gefährliche Minderheiten-Sonderregelungen“

  1. Danke Titus. Toller Beitrag.
    Allerdings bin ich mir dessen hier «nichts widerstrebt der Schweizer Seele mehr als eine einzige, dominante Persönlichkeit oder Organisation» langsam nicht mehr ganz so sicher…

  2. @ Mia
    Eine Dominanz ist immer auch ein Klumpenrisiko. Ich wage daher die Behauptung, dass die Stabilität der Schweiz, die uns wohl alle heilig ist, auch (aber nicht nur) auf die Verteilung der Macht auf mehrere zurückzuführen ist. Entsteht eine Instabilität, weil die fragliche Dominanz wegfällt und so eine Lücke entsteht (nichts ist bekanntlich für die Ewigkeit gemacht), dürfte das höchstwahrscheinlich zu einer gewissen wohltuenden Wiederbesinnung der alten Tugend nach Verteilung der Macht führen…

  3. Siehe Seite 4 obiger Link Stadt Biel. Wer prinzipiell gegen AI und GV war, beantwortete die Stichfrage nicht. In Biel verhältnismässig viele.

  4. Zum Thema Angst:
    Anscheinend habe viele Leute Angst.
    Man kann diese Angst ignorieren, wie die bürgerlichen Parteien, sie verteufeln, wie die Linken oder sie ausbeuten, wie die SVP. Solange sich niemand die Mühe nimmt, die Bürger und ihre Angst ernst zu nehmen, bleibt die Methode SVP die einzige „produktive“ Umsetzung der Bürgerängste.

  5. @ Ursula Schüpbach
    Richtig, die Stadt Biel hat beide Vorlagen auch verworfen. Das gestern in diesem Detailierungsgrad noch nicht ersichtlich (es wurden ja nur die Verwaltungsbezirke angezeigt).

    @ Tinu
    Im Grundsatz stimme ich Dir absolut zu. Die Frage ist nur: Sind die Ängste berechtigt oder wird da nicht einfach nur ein Phantom aufgebaut, vor dem wir uns alle gefälligst fürchten sollen (ich nenne das Dramatisierung)?

    Die SUVA hat zurzeit eine Kampagne am Laufen (siehe diesen Beitrag) mit der Aussage, dass sich jährlich mehr Menschen bei Stolperunfällen als bei Autounfällen verletzen (knapp 300’000). Wo sind die politischen Forderungen zur Eliminierung von Stolperfallen? Gibt’s eine Arbeitsgruppe des Bundes, welche technische Vorschläge ausarbeitet, um Stolperfallen zu verhindern? Gibt es vom Bund beauftragte Forschungsgruppen, welche zum Ziel haben, Alternativen für die bisherigen Stolperfallen zu finden?

    Ich will anhand dieses einfachen Beispiels nur aufzeigen, dass wir eigentlich wichtigere Probleme hätten als die Dauer-Dämonisierung gegen irgendeine Minderheit, welche jede Form von Sachlichkeit vermissen lässt.

    Wenn sich jemand abends oder nachts nicht mehr aus dem Haus wagt, dann wohl doch eher wegen dem rauen Wind und den vereisten Trottoirs als wegen kriminellen Ausländern, die uns quasi hinter jeder Ecke auflauern sollen…

    Wie schon oben im letzten Satz angedeutet: Ich wünschte mir eher eine Politik der Zuversicht statt eine Politik, die mit (aufgebauschten) Angstszenarien operiert. Ob das wenigstens die anderen Parteien bald lernen?

  6. „Richtig, die Stadt Biel hat beide Vorlagen auch verworfen.“ – Titus

    Also die AI und den GV, aber nicht die sog. Steuerinitiative, die aber hätte in Biel/Bienne eh nichts geändert, nebst den Steuern spielt auch die Höhe der Mieten eine grosse Rolle. Da steht es in Biel/Bienne gar nicht so schlecht.

  7. Hier noch eine erste Einschätzung von einem, der es wissen muss.

    @ Ursula
    Danke für die Präzisierung. Ja, Biel steht bezüglich Mieten gut da.

  8. Noch zu „eingebildete Aengste“.
    Das kann sein, aber das gehört zur Diagnose. Ich finde ein Politiker sollte wie ein Arzt sein und erst mal anhören, wo der Schuh drückt. Würde jemand einem Arzt trauen, den einen zum Vorneherein für einen Hypochonder hält?

  9. @ Tinu
    Einverstanden, ein Politiker soll wie ein Arzt sein.

    Nur: Was ist, wenn einem der Arzt eine Krankheit einredet, nur damit er etwas zu behandeln hat, dabei vielleicht andere, dringendere Krankheiten ignoriert und dies vielleicht auch deshalb, weil er kein Rezept für diese anderen Krankheiten kennt?

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