Eine tägliche Ration an Streicheleinheiten

Manche Menschen stehen häufig im Rampenlicht und können sich als Privatperson kaum unbeobachtet fortbewegen. Andere breiten dafür fast ihr gesamtes Privatleben öffentlich aus. Warum ist das so? Ein Erklärungsversuch.

Einige berufliche Tätigkeiten sind ohne Öffentlichkeit gar nicht erst möglich. Ein Musiker, ein Filmstar oder ein Politiker – um nur drei Beispiele zu nennen – könnten ihre Tätigkeit ohne Öffentlichkeit gar nicht erst wahrnehmen.

Was einige haben und andere suchen

Trotzdem haben auch sie ein Recht auf Privatsphäre und auf ein Privatleben. So will es die Theorie. In der Praxis können sich die betroffenen Personen im öffentlichen Raum allerdings kaum fortbewegen ohne erkannt und weiter beobachtet zu werden.

Ihnen allen wird somit andauernd, egal ob privat oder beruflich, eine gewisse Aufmerksamkeit zuteil. Das mag auf den ersten Moment schmeichelnd klingen. Doch nicht immer ist diese Aufmerksamkeit wohlwollend.

Letzteres gilt beispielsweise bei Politikern. Ihnen bläst in der Regel ständig ein öffentlicher Gegenwind seitens des politischen Gegners entgegen. Und stellt sich ein Musiker oder ein Filmstar fernab seiner offiziellen Auftritte als «schwieriger Charakter» heraus (Choleriker, Exzentriker usw.), dürfte er damit zwar Aufmerksamkeit erregen. Diese ist aber wohl kaum wohlwollend.

Es ist also nicht nur mit Vorteilen verbunden, im öffentlichen Rampenlicht zu stehen. Viele «Promis» dürfte sich manchmal wünschen, etwas weniger häufig wahrgenommen zu werden, insbesondere wenn es um ihr Privatleben geht.

Demgegenüber können es unzählige Privatpersonen kaum mehr lassen, schier jede Bewegung in ihrem Alltag mittels entsprechender Peripheriegeräten aller Welt über Twitter, Facebook oder ähnlichen Plattformen mitzuteilen.

Selbstdarstellende «Siebäsiechä»?

Weil dies penetrant geschieht, geht das Ganze schon längst über Andy Warhols bekannte 15-Minuten-Ruhm-Theorie hinaus. Es geht nämlich nicht mehr nur um 15 Minuten, nein, es geht ums ganze Leben oder zumindest um jenen Teil, den man öffentlich ausbreiten will, weil man sich dafür nicht zu schämen braucht.

Sind solche Personen einfach nur Menschen mit einem starken Hang zur Selbstdarstellung, die sich selbst für «Siebäsiechä» halten? Und falls ja: Wie erklärt es sich, dass es relative viele solcher Selbstdarsteller gibt?

Eine kurze und pauschale Antwort gibt es auf diese Fragen nicht. Die folgenden drei Aspekte – als These zu verstehen – könnten aber für einige eine Rolle spielen:

1) Langeweile und Über-/Unterforderung

Wer von frühmorgens bis spätabends ununterbrochen eine Antwort zur Standard-Facebook-Frage «Was machst Du gerade?» gibt – um ein plakatives Extrembeispiel zu nehmen – der scheint sich fürchterlich zu langweiligen und sucht darum nach Unterhaltung und Abwechslung.

Wenn dem so ist, stellt sich weiter die Frage, warum es ausgerechnet Facebook (oder Twitter oder … ) sein muss und warum sich diese Personen nicht selber anderweitig und weitaus weniger öffentlich zu unterhalten oder zu beschäftigen vermögen.

Langweile ist vielfach Ausdruck von Unterforderung (man ist nicht gefordert). Denkbar ist aber auch das Gegenteil: Weil jemand überfordert ist, flüchtet er oder sie sich in belanglose Statusmeldungen in der Hoffnung, «es» würde vorbei gehen.

2) Belanglosem Bedeutung geben

Das Leben von manchen öffentlich bekannten Personen mag sehr aufregend sein, weshalb es sicher auch interessant ist, halbwegs live mitzuerleben, was diese gerade unternehmen. Das gibt Einblicke «hinter die Kulissen» des Alltags dieser Personen.

Aber 99,9 Prozent aller Menschen sind keine öffentlich bekannten Personen. Deren Leben verläuft unaufgeregt. Darum interessiert sich auch niemand ernsthaft (und nicht bloss oberflächlich) dafür, ob diese soeben am Zähne putzen vor dem Fernseher oder am Vertilgen einer Pizza Margherita bei Giovanni sind.

Indem aber über genau solches berichtet wird, versucht (unbewusst?) die betroffene Person belanglosen Dingen eine Bedeutung zu geben. Ihr Alltag wird dadurch allerdings nicht aufregender. Aber man kann ja so tun als ob…

3) Bestätigung

Viele, wenn nicht sogar alle Menschen, lechzen fortwährend nach wohlwollender Anerkennung und Bestätigung ihrer selbst. Diese zu erhalten gibt Sicherheit, denn es bedeutet, nicht auf dem falschen (selbst eingeschlagenen?) Weg zu sein – in den Augen der anderen.

Jede Form von Rückmeldung, und sei es nur ein Weiterspinnen eines Gedankens aufgrund einer veröffentlichten Nachricht, entspricht einer wohlwollenden Bestätigung.

Allerdings: Viele scheinen vergessen zu haben oder sind sich nicht bewusst, dass auch das Gegenteil möglich ist, dass also die Rückmeldungen auch abweisend sein können. Weil das niemand erwartet – zumindest nicht bis zum ersten Auftreten – dürfte die Wirkung einer Rückweisung umso grösser sein…

Weniger ist mehr

Wir leben heute in einer Welt, die dank unzähligen Kommunikationsmitteln, allen voran Internet, näher zusammengerückt scheint. So kommunizieren heute Leute miteinander, welche sich früher schon allein wegen der weiten Distanzen kaum hätten kennenlernen können.

Doch diese (virtuelle) Nähe führt nicht automatisch zu mehr gegenseitiger Bestätigung oder Anerkennung. Eher das Gegenteil ist der Fall: Durch die Verzettelung auf unzählige «Freunde» sind allfällige Streicheleinheiten nur noch sehr flüchtig möglich. Niemand kann schliesslich mehr als eine oder zwei Hände voll «Freunde» hätscheln und tätscheln.

Wer darum täglich nach einer Portion Streicheinheiten sucht (also wir alle?), konzentriert sich wohl besser auf einen engen Kreis im direkten, privaten Umfeld, welchem man auch intimere Dinge anvertrauen kann, als dass man darauf hofft, diese Anerkennung durchs weltweite und wiederholte Verbreiten von oberflächlichen Belanglosigkeiten zu erhalten.

2 Antworten auf „Eine tägliche Ration an Streicheleinheiten“

  1. Es passt zwar nicht zum Thema, aber dennoch soll dieses Gedicht mein Weihnachtsgeschenk an Dich sein.

    Wenn es wieder hell wird, wo es dunkel war,
    wenn es wieder warm wird, wo es kalt war,
    wo wieder Gemeinschaft gelebt wird,
    wo Einsamkeit herrschte,
    wieder gesprochen wird, wo Schweigen trennte,
    wenn wir wieder träumen,
    Engel singen hören,
    Sterne sehen und unsere Chancen wahrnehmen,
    entsteht ein neues Leben.
    Dann ist Weihnachten und Frieden für die Menschen.

    Ich wünsche Dir besinnliche und frohe Weihnachten.

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