Zu aktive Parlamentarier?

Widerstand regt sich ob der vermeintlichen Vorstoss-Flut im National- und Ständerat. «Schwarze Schafe» sind schnell ausgemacht. Jene in der eigenen Herde scheinen aber offensichtlich übersehen zu werden…

Vielleicht haben Sie den nachfolgenden «10vor10»-Beitrag des Schweizer Fernsehens vom 16. Dezember 2010 auch gesehen:

Einseitiges Bild

Wie unschwer zu erkennen ist, fiel dieser Beitrag etwas gar unausgewogen und plakativ aus: Da die linke Grüne mit ihren unzähligen Vorstössen, dort der rechte SVP-ler, der gegen diese Vorstoss-Flut ankämpft.

Unausgewogen ist dieser Beitrag auch deshalb, weil dem Zuschauer eine Gesamtsicht über alle Parlamentarier und eine Sicht fernab des immer gleichen Links-Rechts-Schemas vorenthalten bleibt.

So überrascht es nicht, dass This Jennys Parteikollege, der Walliser SVP-Nationalrat Oskar Freysinger, in der «10vor10»-Sendung des nachfolgenden Tages sich auch als einer von jenen entpuppte, die selber nicht weniger als sieben Vorstösse auf einen Streich einreichen, siehe das nachfolgende Video (Sie können gleich auf 0:55 vorspulen):

Diesen Widerspruch hat ja zum Glück keiner bemerkt… 😉

Nachgefasst

Aber wie steht es denn nun wirklich über alle Parteien betrachtet? Da das Jahresende naht, hat man dies in der Augenreiberei auch gleich zum Anlass genommen, nachfolgend eine Art Jahresbilanz in Sachen Vorstösse seitens Parlamentarier zu erstellen.

Ausgangsbasis bildet die Geschäftsdatenbank Curia Vista der Parlamentsdienste und deren Suchfunktion, welche via Internet jedem zugänglich ist. Gezählt wurden einzig die individuellen Vorstösse seitens der einzelnen Mitglieder der sechs aktuellen Fraktionen. Jene Vorstösse, welche beispielsweise im Namen der gesamten Fraktion oder im Namen einer Kommission eingereicht wurden, werden nachfolgend bewusst nicht mitgerechnet.

Weiter ist zu erwähnen, dass als «Vorstoss» eine Motion, ein Postulat, eine Interpellation, eine Anfrage und eine Frage für die Fragestunde zu verstehen ist und dass sich die nachfolgenden Angaben aufs Einreichungsjahr 2010 beziehen (Stichtag: 28.12.2010).

Um das Jahr 2010 vollständig und ungeachtet von parlamentarischen Mutationen «rechnen» zu können, wurden die drei Vorstösse von Ricardo Lumengo (inzwischen fraktionslos) aus der Wintersession weiterhin der SP-Fraktion angerechnet. Ebenso wurde sein Sitz wie auch der frei gewordene Sitz durch die Wahl von Simonetta Sommaruga in den Bundesrat weiterhin der SP-Fraktion zugeordnet.

Wahlkampf 2011?

Vorab die Frage: Spürt man schon etwas vom Wahlkampf 2011? Versuchen sich tatsächlich gewisse Parlamentarier mittels Vorstössen zu profilieren?

Nach Sichtung des ersten «10vor10»-Beitrags oben, der den Eindruck vermitteln könnte, dass ein gewisser Vorstoss-Aktivismus ausgebrochen sei, überrascht die Antwort: In der Wintersession wurde zwar insgesamt 457 Vorstösse von den einzelnen Fraktionsmitgliedern eingereicht. In der Frühjahrssession (542) wie auch in der Sommersession (471) waren es teilweise allerdings bedeutend mehr.

Dies zeigt aber nur ein pauschales Bild. Im Vergleich zur Herbstsession wurden durch die Mitglieder der CVP/EVP/glp- und der FDP.Liberale-Fraktion weniger Vorstösse eingereicht, von allen anderen hingegen mehr. Trotzdem: In der Frühjahrs- oder Sommersession wurden teilweise mehr Vorstösse eingereicht als in der Wintersession, wie die nachfolgende Darstellung pro Session und Fraktion zeigt:


(Zum Vergrössern anklicken, gilt auch für die weiteren Grafiken unten)

Drei-Klassen-Gesellschaft

Mit 557 Vorstössen übers gesamte Jahr oder 139 Vorstössen pro Session führen die Mitglieder der SVP-Fraktion die Rangliste an. Doch diese Zahlen sind erst noch ins Verhältnis zur Anzahl Fraktionsmitglieder zu setzen, um etwas über den «Vorstoss-Aktivismus» aussagen zu können.

Platz 1 belegen demnach mit Abstand die Mitglieder der Grünen-Fraktion mit durchschnittlich 11,9 Vorstössen pro Fraktionsmitglied. Rund drei Vorstösse weniger (8,5) sind es seitens SP-Fraktionsmitglieder, welche den zweiten Rang belegen, knapp gefolgt von den SVP-Fraktionsmitgliedern (8,4).

Wesentlich moderater verhielten sich hingegen die Mitte-Parteien. Über beide Räte und alle Fraktionsmitglieder lag der Durchschnitt bei 7,6 Vorstössen.

Einfache und komplexe, öffentliche und diskrete Vorstösse

Gemäss dem ersten «10vor10»-Beitrag oben ist von durchschnittlichen Kosten von 6‘000 Franken pro Vorstoss die Rede. Doch Vorstoss ist nicht gleich Vorstoss.

So darf wohl mit gutem Gewissen angenommen werden, dass die Beantwortung einer einfachen Anfrage oder einer Frage im Rahmen der Fragestunde (welche es nur im Nationalrat gibt) sicher günstiger ausfällt als ein Vorstoss, welcher die Räte, Kommissionen, die Bundesverwaltung und/oder den Bundesrat zu durchlaufen haben. Demgegenüber verlangen Anfragen oder Fragen in der Fragestunde «nur» eine Stellungnahme seitens Bundesrat/Bundesverwaltung und haben ansonsten nichts zur Folge.

Darum lohnt es sich, hier die Anfragen/Fragen von den anderen Vorstössen zu unterscheiden. Die beiden unterscheiden sich vor allem durch die Form der Beantwortung.

So ist zwar die schriftlich abgegebene Antwort zu einer Anfrage öffentlich zugänglich (ebenfalls über die Curia Vista), sie wird jedoch nicht im Rat behandelt. Es handelt sich somit um eine «diskretere» Form als die Fragen der Fragestunde, welche im Rat behandelt werden und somit öffentlich wie auch medial stärker wahrgenommen werden.

Dabei wird man gelegentlich den Eindruck nicht los, dass diese Fragen weniger aus lauteren Absichten als vielmehr aus Profilierungsgründen gestellt werden. Es scheint so, als ob man mit diesen Fragen versucht, den Bundesratsmitgliedern Aussagen zu entlocken, die einem ins eigene politische Konzept passen. Dies zeigt sich gelegentlich auch durch die nicht immer ganz ohne Unterton gestellten Nachfragen seitens Votanten im Anschluss an die Antwort durch das entsprechende Bundesratsmitglied.

Darum wird nachfolgend zusätzlich unterschieden zwischen den «diskreten» Anfragen und den manchmal einem Schlagabtausch ähnelnden Fragen der Fragestunde.

Es zeigt sich nämlich bezüglich Anfragen Erstaunliches. So wählten die SP-Fraktionsmitglieder für 11,5 Prozent ihrer Vorstösse das «diskrete» Mittel der einfachen Anfrage. Demgegenüber betreffen nur gerade 2,7 Prozent aller Vorstösse der Fraktionsmitglieder der CVP/EVP/glp diese wenig publikumswirksame Vorstoss-Form:

Setzt man dies wiederum in Bezug zur Anzahl Fraktionsmitglieder, wurden durch die SP- und die Grünen-Fraktionsmitglieder je ein Vorstoss (von den durchschnittlich 8,5 beziehungsweise 11,9 Vorstössen) als einfache Anfrage eingereicht:

Ziemlich genau ein Drittel (622) aller Vorstösse (1863) waren in diesem Jahr Fragen für die Fragestunde. 43,4 Prozent aller Vorstösse der Grünen-Fraktionsmitglieder betreffen diesen mutmasslich «billigeren», aber umso öffentlicheren Weg. Mit 39,1 Prozent folgen die SVP-Fraktionsmitglieder, anschliessend jene der SP-Fraktion (32,3 Prozent).

Hierzu ist ein Vorbehalt anzubringen: Die Fragestunde gibt es nur im Nationalrat. Darum wären vom Total aller Vorstösse aus beiden Räten (1863) jene 146 eingereichten Vorstösse des Ständerats abzuziehen – und zwar pro Fraktion. Aus Aufwandsgründen wurde darauf verzichtet. Die hier miteingerechneten 146 Vorstösse in der Gesamtheit aller Vorstösse haben nur marginalen Einfluss.

Die «echten» Vorstösse

Wesentlich interessanter sind jedoch alle anderen Vorstösse, denn deren Beantwortung beansprucht viel Aufwand, beschäftigt beide Räte (im Gegensatz zu den Fragen der Fragestunde) und sollen schliesslich in den Augen des Votanten etwas auslösen.

Spitzenreiter waren hier die Vertreter der SVP-Fraktion mit insgesamt 305 «echten» Vorstössen (also ohne Anfragen/Fragen). Natürlich ist auch hier das Ganze ins Verhältnis zur Anzahl Fraktionsmitglieder zu setzen.

Demnach belegen wiederum die Mitglieder der Grünen-Fraktion den Platz 1 mit durchschnittlich 5,9 Vorstössen. Den zweiten Platz belegen die Fraktionsmitglieder von SP- und CVP/EVP/glp mit je 4,8 Vorstössen, dicht gefolgt von der SVP mit 4,6 Vorstössen pro Parlamentarier. Über alle Fraktionen wurden durchschnittlich 4,5 «echte» Vorstösse eingereicht.

Diese Zahl bezieht sich wiederum auf beide Räte. Wie bereits erwähnt, haben die Ständeratsmitglieder im 2010 insgesamt 146 Vorstösse eingereicht. Das entspricht somit 3,2 Vorstössen pro Ständeratsmitglied, was nicht markant von den durchschnittlich 4,5 «echten» Vorstössen (über beide Räte gerechnet) abweicht.

Ziel erreicht…

Was die Anzahl Vorstösse hochtreibt, sind vor allem die Fragen, welche im Rahmen der Fragestunde im Nationalrat gestellt werden können. Lässt man diese weg oder würden sich die Nationalräte mit Fragen etwas zurückhalten, dann liesse sich das Ziel von This Jenny leicht erreichen. Dieser sprach sich ja dafür aus, dass pro Parlamentarier und pro Session nur noch zwei Vorstösse eingereicht werden sollen dürfen, bei vier Session pro Jahr also höchstens acht Vorstösse. Bei heute schon durchschnittlich 4,5 «echten» Vorstössen ist Jennys Ziel eigentlich bereits erreicht.

Natürlich dürfte das beim einen oder anderen Parlamentarier zu einem Problem führen, weil diese eben mehr als acht Vorstösse pro Jahr einreichen (die erwähnten 4,5 Vorstösse sind ja nur ein Durchschnittswert). Doch diese werden sich zu helfen wissen und lassen dafür den einen oder anderen Vorstoss einfach durch einen Fraktionskollegen einreichen, dessen «Kontingent» noch nicht ausgeschöpft ist…

Diese Probleme dürften übrigens auch die SVP betreffen. Die Geschäftsdatenbank Curia Vista liefert zwar keine Rangliste nach der Anzahl eingereichter Vorstösse über alle Parlamentarier. Hingegen sind gezielte Abfragen pro Parlamentarier möglich. Und da zeigt sich doch auch Überraschendes: Im 2010 hat zwar die Grüne Franziska Teuscher ganze 18 Vorstösse eingereicht. Bei Jennys SVP-Parteikollege Freysinger waren es aber 22 Vorstösse…

Vielleicht sollte der Glarner Ständerat zuerst vor der eigenen Parteien-Tür kehren bevor er selber eine Motion einreicht, die für ihn als Ständerat ohnehin bereits erfüllt ist, da er von den einfachen Anfragen und den unzähligen Fragen der Fragestunde im Nationalrat nicht betroffen ist. Und seine eigenen Parteikollegen im Nationalrat lassen sich bestimmt keinen Maulkorb verpassen, weshalb sein Vorstoss sicher chancenlos ist…

Noch ein Letztes: Relevant ist letzten Endes nicht die Anzahl eingereichter Vorstösse, sondern die Anzahl Vorstösse, welche etwas bewirken beziehungsweise zu einem bestimmten Ziel führen. Darüber gibt die Geschäftsdatenbank Curia Vista leider keine Auskunft und eine manuelle Auswertung ist zu aufwändig.

Diese «Erfolgsquote» auszuweisen wäre aber ein erster wichtiger Schritt um feststellen zu können, wer trotz geringer Aussichten auf Erfolg unablässig und damit vorwiegend aus populistischen Gründen Vorstösse einreicht…

(Alle Angaben ohne Gewähr)

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