Liebes Jahr 2010
Nun liegst Du also vor – nein, nun liegst Du in den letzten Atemzügen bald hinter mir, was ich zum Anlass nehme, noch einige Worte an Dich zu wenden, bevor Du ganz von uns gegangen sein wirst.
Ich sag‘ es ganz undiplomatisch: Ich werde Dich nicht vermissen. Genauso wie Deine Vorgänger hast auch Du mich ein Jahr älter werden lassen. So gesehen fällt es mir schwer, mich dafür bei Dir zu bedanken – die Welt kennt schliesslich schon genug Heuchler.
Obschon mein Anlage- und Finanzberater zurzeit in den Ferien weilt (er hat etwas von Einbezug seines Bonus erwähnt), wage ich die Behauptung, dass Du mich auch hast ärmer werden lassen. Du bist nämlich teurer ausgefallen als Dein Vorgänger und dies ohne entsprechende Kompensation auf der Einnahmenseite.
Nur dank Effizienzsteigerungen und einschneidenden Sparmassnahmen (diese Ausdrücken gehören zwingend zu jedem Bullshit-Bingo!) konnte ich schliesslich meine Kaufkraft halten. Um weiter Ressourcen zu sparen habe ich im Sommer sogar nur halb so lange Hosen und Shirts getragen. Ebenfalls hatte ich während dieser Zeit aufs Tragen von Socken verzichtet und um Shampoo zu sparen, liess ich auch meine Haare nie zu lange wachsen.
Zeitweise stand sogar zur Diskussion, ob ich mich nicht gleich selber entlassen soll um so den grössten Aufwandsposten eliminieren zu können. Und obschon sich schon zu Beginn des Jahres eine jämmerliche Eigenkapitalrendite abzeichnete, hatte ich als mein Verwaltungsratspräsident und CEO dann doch ein Einsehen mit mir selbst und habe von einer Kündigung abgesehen. Das ersparte mir auch langwierige Verhandlungen mit den Gewerkschaften.
Unzufrieden mit Dir bin ich aber vor allem auch wegen der Entwicklung auf politischer Ebene im In- und Ausland. Kannst Du mir nur eine Hand voll Dinge nennen, die sich da irgendwie verbessert haben sollen?
Gerade in diesen letzten Tagen des Jahres gabst Du ja nochmals kräftig Gas in Sachen Konflikte: Streiks, Bombenterror, Verhaftung vermeintlicher Terror-Verdächtiger, Korea-Konflikt, Elfenbeinküste, …
Als Supplement legst Du noch einige wetterbedingte Ereignisse oben drauf wie ausserordentlich kalte Temperaturen, Unmengen an Schnee, Eisregen usw. Aber Salz für die Strassen und Enteisungsmittel für die Aufrechterhaltung unserer Mobilitätsgesellschaft lässt Du dann wieder nicht vom Himmel fallen, sodass alles nur noch schlimmer wird. Es fehlte Dir eben immer schon das nötige Feingefühl.
Dabei spreche ich bloss von den Ereignissen der letzten Tage. Glaub‘ nun ja nicht, ich hätte die Hitzewelle und Feuersbrunst um Moskau, das Erdbeben und die Unwetter in Haiti wie auch in Pakistan bereits vergessen, um nur einige Beispiele zu nennen. Je länger ich darüber nachdenke, desto klarer wir mir: Es wird wirklich höchste Zeit, dass Du bald von der Bildfläche verschwindest!
Ich will aber nicht nur undankbar sein. Auf der finanziellen Ebene hätte es auch schlimmer kommen können, also bin ich zufrieden mit dem, was ich habe. Anderen geht es bedeutend schlechter, selbst in der ach so reichen und doch rappenzählender Schweiz.
Zudem hast Du massgeblich dazu beigetragen, dass es hier in der Schweiz nächstens viel sicherer wird. Denn bald müssen wir uns nur noch vor jenen Ausländern mit nicht immer ganz unzweifelhafter Vergangenheit fürchten, die unter eine Pauschalbesteuerung fallen. Alle anderen werden ausgeschafft.
Auch hast Du mir 365 unfallfreie und von Krankheit verschonte Tage beschert. Selbst die Schweinegrippe konnte ich definitiv den Schweinen zum Frass vorwerfen, welche darob gar herrlich grunzten. Apropos: Du bist mir noch immer eine Antwort auf die Frage schuldig, ob der ganze Zirkus auch Mitschuld an den höheren Krankenkassen-Prämien hatte oder nicht.
Und schliesslich hast Du mich – wie übrigens auch schon Dein Vorgänger – etwas weiser werden lassen. Das hat mir zwar manchmal ein Haar grauer werden lassen, aber da drücke ich nun einfach ein Auge zu.
Ohne undankbar sein zu wollen lass‘ Dir abschliessend sagen: Ich weine Dir trotz allem mit keinem Auge eine Träne nach und hoffe wie schon in den Jahren zuvor, dass es Dein Nachfolger besser machen möge!
Liebe Grüsse
Dein Zeitgenosse
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Liebe Leserinnen und Leser
Bequem wäre es ja, einer so abstrakten Sache wie einem Jahr die Schuld für allerlei Ereignisse zuweisen zu können. Vieles liegt jedoch in den Händen von uns Menschen. Darum wird es auch im (Wahljahr) 2011 nicht an Themen für die Augenreiberei mangeln.
Für Ihre Treue bedanke ich mich ganz herzlich und wünsche Ihnen alles Gute fürs 2011!
Und wie es sich für den Jahreswechsel gehört: Hier noch das «Dinner for one» in einer nicht schlecht gemachten Plagiat-Version mit Miss Otti 😉
Lieber Titus
Dein Blog war mir ein guter Begleiter im Jahr 2010. Ich verbuche ihn definitiv als einen Positivpunkt in meiner Jahresbilanz. Herzlichen Dank und alles Gute für 2012.
Alice
„…und um Shampoo zu sparen, liess ich auch meine Haare nie zu lange wachsen.“
Und diese Shampoosparmassnahme,
lieber Titus,
wirkte sich wiederum positiv aus auf den Verdienst deines Coiffeurs,
(von deinem gepflegten Aussehen nicht zu reden… 🙂 )
Für alles hier im Blog danke ich dir herzlich. Besonders für das Interview mit Aline: Es gehörte mit zum Besten, was ich dieses Jahr gelesen habe.
Viel Gutes für dich an allen kommenden Tagen des bald beginnenden Jahres,
herzlich Hausfrau Hanna
Sonst bin ich ja Guguseli-Verächter, aber diese Videos musste ich mir ansehen. Zwei Komiker die ich mag. Wirklich sehenswert.
Ansonsten helfe ich gerne mit, weitere graue Haare anzusetzen, Bullshit-Bingo zu spielen und die Krankenkassen zu unterstützen. Alles Gute, Titus! Und ich bin gespannt auf deine scharfsinnigen Kommentare auf 140 Zeichen.
Lieber Titus,
zeitgenossen haben wir das ganze Jahr mit deinem Blog und uns, dank deinen Beiträgen, dabei oft die Augen reiben müssen.
Ich hoffe das bleibt auch im neuen Jahr so.
In diesem Sinne, meine besten Wünsche für dich im 2011.
Herzlich,
Daniel
Auch ich habe Dein Blog 2010 mit viel Genuss gelesen und erhoffe mir auch im Neuen Jahr weitere Genüsse. Merci Titus und alles Gute im Neuen Jahr 2011. Auch wenn alle Zwangsabgaben steigen und der Verdienst in den Keller rasselt. Dann basteln wir halt unser eigenes Geld.
Vielen Dank allerseits!
@ Alice
Wie machst Du das mit den Zeitreisen, da Du bereits von 2012 sprichst? 😉
@ Hausfrau Hanna
Dazu muss frau eben wissen, dass mann sich selber die Haare schneidet. Es werden allerdings immer weniger… 🙁
Zu Aline: Ich lasse sie es wissen.
@ Tinu
Comedy auf RTL ist auch nicht so meine Sache. Mit Ausnahme von ein, zwei Sätzen finde ich aber, haben die beiden diesen Sketch gut parodiert. Wie wohl eine Twitter-Version sich anhören wird?
@ Daniel
Ich werde mir weiterhin Mühe geben (über den Zeitaufwand brauche Dir wohl nichts zu erzählen).
@ BodeständiX
Apropos Zwangsabgaben: Der regelmässige Besuch der Augenreiberei bleibt auch im nächsten Jahr gleich günstig. Selbst die MwSt-Erhöhung werde ich grosszügigerweise nicht weiterbelasten, sondern auf meine Kappe nehmen, so wie das auch die Grossverteiler tun… 🙂
Ganz ehrlich, dass Original von Dinner vor one gefällt mir in der Originalfassung besser, aber die darf ich mir nun um 19.10h aus SF1 reinziehen.
Dem Jahr 2010 hast Du es aber arg gegeigt! Rot vor Scham wird es sich um Mitternacht zurückziehen.
Für Deine Blogbeiträge, die mal nachdenklich stimmen, mal zur Eigeninitiative anregen, häufig auch zum schmunzeln und lachen bewegen, dafür lieber Titus, möchte ich mich bei Dir bedanken.
@ Ate
Vielen Dank für die Blumen! Alles Gute im noch jungen Jahr!