Gehören Sie auch zu denjenigen, die gegen Dioxin immun sind? Oder gehören Sie einfach nur zu denjenigen, die gegen den Dioxin-Skandal in Deutschland immun geworden sind?
Die Empörung über die verseuchten Industriefette mit Dioxin hält sich in der Schweiz in Grenzen. Die lautesten Töne sind den Medien zu entnehmen. Das liegt gewiss auch daran, dass wir Schweizer nicht betroffen sind.
Bei uns ist alles sauber, versichert man uns von höchster Stelle. Noch. Bis dann irgendwann irgendjemand feststellt, dass im Zeitalter der offenen Grenzen vielleicht doch der eine oder andere Schweine-, Geflügel- oder Viehzüchter einige Säcke Futtermittel im billigeren und benachbarten Ausland vom gleichen Hersteller kaufte – wenn vielleicht auch nicht unbedingt auf legale Weise.
Hoch industrialisiert
Darum mag man nicht so recht an die Version mit dem «die Schweiz ist nicht betroffen» glauben. Gründe für das fehlende Vertrauen gibt es viele.
Einer findet sich in einem anderen Skandal, der gar noch nicht so lange zurückliegt: Dem Gammelfleisch-Skandal. Auch davon war die Schweiz nicht betroffen. Doch er hat das Misstrauen dafür geschürt, dass das, was drauf steht, nicht drin ist.
Ein zweiter Grund betrifft die fehlende Transparenz bei den Kontrollen. Gerade gestern informierte das Bundesamt für Gesundheit (BAG) über die neu für den Schweizer Markt zugelassenen Produkte im Rahmen des «Cassis de Dijon»-Prinzips.
In der Medienmitteilung steht unter anderem: «Hauptkriterien der Zulassung sind die Sicherheit der Lebensmittel und der Täuschungsschutz. Ist die Gesundheit der Konsumenten und Konsumentinnen nicht gefährdet und werden die Anforderungen an die Produkteinformationen erfüllt, erteilt das BAG die Bewilligung in Form einer Allgemeinverfügung.»
Sicherheit der Lebensmittel? Wer kontrolliert denn in welchen Abständen die fraglichen Lebensmittel, worauf werden diese untersucht und wo werden die Ergebnisse publiziert? Der Dioxin-Skandal zeigt (einmal mehr), wie wichtig nicht nur regelmässige Kontrollen sind, sondern auch die Publikation der Ergebnisse.
Ein weiterer Grund fürs fehlende Vertrauen liegt in dem, was auf der Verpackung nicht steht, nämlich die Herkunft. Gewiss, da stehen Dinge darauf wie «Hergestellt in der Schweiz aus Schweizer Fleisch».
Doch damit verschwindet die Kuh Wilma des Bauern Sepp von der Oberen Alp in der Anonymität. Zwar gibt es Bemühungen wie jene von Coop mit der «Naturaplan-ID», anhand welcher die Herkunft von Bio-Früchten und -Gemüse rückverfolgt werden kann.
Doch so richtig mag man auch da nicht daran glauben, ob diese Herkunftsbezeichnungen wirklich in jedem Fall stimmen. Das romantische Bild des Bio-Bauern, der noch selber von Hand jede einzelne Karotte aus dem Boden holt, sachte wäscht und sorgfältig verpackt beim Grossverteiler vorbeibringt, müssen wir uns abschminken.
Die Nachfrage nach Bio-Produkten ist inzwischen einfach zu gross als dass deren Herstellung insbesondere für die Grossverteilung nicht auch schon längst hochindustrialisiert ablaufen würde, womit auch eine klare Abgrenzung der Ernten zwischen Bio-Bauer A und Bio-Bauer B wenig wahrscheinlich ist. Und den Karotten sieht man es nicht an, woher sie tatsächlich kommen.
Kurze Empörungswelle(n)
Doch zurück zum Fleisch. Am Dienstag berichtete der «Kassensturz» über Fleisch, das unter Schutzatmosphäre verpackt wird. Dadurch erhält das Fleisch eine frischere Farbe, verliert aber an Qualität.
Zwar ist es immer noch geniessbar und keineswegs vergiftet. Doch beim Braten scheint es schneller durchgegart zu sein als nicht unter Schutzatmosphäre verpacktes Fleisch – aber eben nur dem Anschein nach. Weil der Schein trügt, werden unter Umständen nicht alle Keime beim Braten abgetötet, da sich viele bei der Zubereitung nach der Farbe richten.
Natürlich ist dieser visuelle «Etikettenschwindel» nicht mit dem Dioxin-Skandal vergleichbar. Er findet auch nur deshalb hier Erwähnung, weil diesmal wir davon betroffen sind und weil darum wir Grund hätten, empört zu sein.
Trotzdem hält sich die Empörung in Grenzen. Im Forum des Kassensturz haben sich bis jetzt sechs verschiedene Personen in acht Kommentaren verewigt, einige ohne direkten Bezug zum fraglichen Beitrag.
Wäre die Empörung grösser, wenn man uns hochoffiziell bestätigt, dass auch hierzulande das Fleisch mit Dioxin vergiftet wäre? Würden wir uns überhaupt darüber empören?
Ja, es gäbe eine Empörungswelle. Aber höchstens für zwei Tage lang. Doch selbst dann würde diese Empörungswelle sich schnell wieder legen. Es bräuchte schon neue, gravierendere Tatsachen um das Blut von einigen wenigen wieder in Wallung bringen zu können.
Im Grosse und Ganzen aber nehmen viele solche Skandale einfach hin. Natürlich wird davon Notiz genommen. Aber es treibt niemanden auf die Strasse um für «giftfreie Lebensmittel» zu demonstrieren.
Es würde auch keine Boykott-Aufrufe geben. Schlimmstenfalls kommt jemand auf die Idee, eine Facebook-Gruppen «Für saubere Nahrungsmittel» zu gründen, welcher dann jeder zur Beruhigung seines Gewissens («ich habe etwas dagegen getan») beitreten kann…
«Ist uns doch alles egal»?
Diese Passivität oder bestenfalls diese Mausklick-Aktivität ist erstaunlich. Sollten nämlich gleich nebenan drei prächtige Bäume gefällt werden, tut sich Widerstand breit, sodass eifrigst Unterschriften für deren Erhalt gesammelt werden. Und wenn es um zwei Prozent mehr Lohn geht, wird demonstriert und gar mit Streik gedroht.
Das mag auch alles in Ordnung sein und das Engagement für diese Punkte sind absolut lobenswert. Nur: Wenn es um eines der wichtigsten Nahrungsmittel der westlichen Gesellschaft geht – egal ob einem die Tiertöterei gefällt oder nicht – tut sich kaum etwas.
Ohne die drei Bäume, welche hoffentlich an einem anderen Ort ums Doppelte kompensiert werden, ginge das Leben weiter. Und ohne die zwei Prozent mehr Lohn könnte oder müsste man sich irgendwie arrangieren.
Aber wie «arrangiert» man sich bei vergifteten, krebserregenden Lebensmitteln? Auf welche eiweissreiche Nahrung soll denn fast die gesamte Bevölkerung von einem Tag auf den anderen ausweichen?
Woran liegt es, dass wir bei Skandalen um Nahrungsmittel, ohne die wir schliesslich nicht leben könnten, kaum mehr aufbegehren?
Sind wir inzwischen schon so immun geworden gegen immer wieder neue Skandale unserer hoch industrialisierten Nahrungsmittelindustrie? Fühlen wir uns einfach zu ohnmächtig und ergeben uns unserem Schicksal des Ausgeliefertseins?
Oder nehmen wir solche «Verunreinigungen» deshalb in Kauf, weil wir täglich mit unzähligen anderen Verunreinigungen konfrontiert sind, welche wir unbewusst als schlimmer einstufen (Luft, Wasser, Böden)? Glauben wir an diese Verunreinigungen nicht, weil wir sie nicht sehen können?
Und woran liegt es, dass niemand danach fragt, was den Tieren täglich verfüttert wird?
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Ähnliche Artikel zum Thema
(von einem, der noch nicht immun ist)
- Thinkabout (10.01.2011):
«Mehr Markt, mehr Skandal – für einen Moment ist das fatal» - Thinkabout (11.01.2011):
«Unsere Massen sind eben erdrückend»
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Der aktuelle Skandal, der sich über ganz Deutschland zieht, weil verunreinigtes Futter verkauft wurde, ist wirklich eine Katastrophe. Bei konventionell hergestellten Produkten kann man auf jeden Fall nicht sicher sein was alles Schlimmes drin ist. Beim Produktionsprozess von BIO-Produkten würde ich die Gefahr geringer einschätzen, aber wer hat dabei schon 100-prozentige Gewissheit, dass es alles mit rechten Dingen zu geht? Schließlich ist selbst bei BIO-Produkten den Verbrauchern nicht alles transparent. Mit anderen Worten bleiben wohl immer unüberwachbare Lücken.
Alle werden irgendwann sterben, die einen früher die andern später. Ich behaupte zudem mal, wir alle sind bereits irgendwie vergiftet, die einen werden deshalb krank werden oder sterben, andere eben nicht oder eben etwas später. Selbst wenn man heute alles umkrempelt und sauber machen würde, es würde sich viel zu spät auswirken.
It’s simply too late and it’s very soon over anyway, so what?
@ Frank
Es gibt ja noch die Wochenmärkte, an denen man mit den Produzenten direkt in Kontakt treten kann oder die Produkte, welche man direkt ab dem Bauernhof kaufen kann. Aber für eine grosse Masse ist das kaum eine Alternative, man stelle sich nur schon den Verkehr aufs Land zu den Bauernhöfen vor…
@ Chris
Vielen Dank für Deinen Optimismus… 😉
Der Dioxinskandal ist doch ganz eindeutig ein Produkt dieser deutschen Geiz ist Geil Gesellschafft.
Lebensmittel werden nicht mehr Wertgeschätzt, nicht Qualität-, nur billig zählt bei diesen Konsumenten.
Fazit: selber Schuld.
@ duvoisin
Ich fürchte, in der Schweiz ist es nicht viel anders, nur einfach nicht so plakativ wie in Deutschland. Wer hinterfragt denn schon die Qualität der M-Budget-Produkte der Migros, der Prix Garantie-Produkte von Coop sowie der eher unbekannten Produkte/Marken von Denner, Aldi und Lidl?
ich denke schon, dass es in der Schweiz anderst ist, das sieht man schon an den Werbungen die man uns hier verkauft.
Hier geht es viel weniger um billig, noch billiger, am billigsten.
Hier kann man durchaus auch mit Naturabeef,- Bio, Oeko usw. Kunden ansprechen.
@ Duvoisin
Einverstanden, der Ton ist hierzulande etwas weniger aggressiv und weniger laut. Aber geworben wird aber trotzdem auch im Billigpreis-Segment, was hier oder hier auch bereits schon einmal ein Thema war.