Verschieben und nachsitzen

Wer seine Arbeit erledigt hat, räumt seinen Arbeitsplatz auf und darf nach Hause gehen. Wer noch unerledigte Arbeit hat, muss seinen Abgang verschieben und nachsitzen. Was für viele selbstverständlich klingt, gilt nicht fürs aktuelle Parlament.

Gelegentlich gibt es Erkrankungen, welche sehr selten sind, nur lokal auftreten und nur bei wenigen der betroffenen Personen hin und wieder ausbrechen. Von der Krankheit, von welcher hier die Rede ist, sind in der Schweiz nur gerade einmal 246 Personen potentiell gefährdet. Sie heisst Sisteritis.

Erneute Sisteritis-Welle

Sisteritis, abgeleitet aus dem lateinischen Wort sistere, ist eine äusserst gemeine und heimtückische Krankheit und führt zu einem sofortigen Stehenbleiben, ja gar zu einer Art lähmender Blockade. Sobald sie auftritt, sind davon gleich alle potentiell gefährdeten Personen betroffen, was unweigerlich auch Folgen für alle anderen Personen hat, welche in Abhängigkeit zu den Betroffenen stehen.

Obschon die ersten Fälle von Sisteritis bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts dokumentiert werden, sind die Ursachen bis heute nicht genau bekannt. Man vermutet, dass es etwas mit Partikularinteressen zu tun hat, nur sind diese leider in den wenigsten Sisteritis-Fällen genauer bekannt. Zudem wurde bis dato noch keine verlässliche Studie zu diesem Thema erstellt.

Als gesichert gilt hingegen, dass der Ausbruch von Sisteritis von den Betroffenen selbst verursacht wird. Jegliche Versuche, mit autogenem Training dagegen anzukämpfen, sind bisher jämmerlich gescheitert. Es scheint sogar, dass die Erkrankten an Sisteritis erkranken wollen.

Immerhin tritt diese äusserst gemeine Krankheit nur sehr lokal auf, und zwar während den Sessionen in den Sälen von National- und Ständerat. So hat sie auch gestern wieder bei der Mehrheit der Nationalräte zugeschlagen.

Diese Mehrheit wollte nämlich gar nicht erst auf einen indirekten Gegenentwurf zu Thomas Minders Volksinitiative «gegen die Abzockerei» eintreten und schickt stattdessen das Anliegen wieder zurück an die nationalrätliche Kommission für Rechtsfragen. Dieses Stehenbleiben, diese lähmende Blockade ist ein deutliches Symptom dafür, dass es sich zweifelsfrei um Sisteritis handelt.

Protokoll des Verzögerns

Auch der inzwischen bald 84-jährige Franz Weber, Umweltschützer und als solcher auch Urheber früherer Volksinitiativen, muss sich mit seiner Volksinitiative «Schluss mit uferlosem Bau von Zweitwohnungen!» gedulden – und zwar schon länger als Thomas Minder. Auch Weber ist Opfer der Symptome von Sisteritis, wie die Historie seiner Initiative deutlich macht:

Etappe Datum
Beginn Unterschriftensammlung 20.06.2006
Einreichung bei Bundeskanzlei 18.12.2007
Botschaft des Bundesrats ans Parlament 29.10.2008
Fristverlängerung um ein Jahr durch Ständerat 02.06.2010
Fristverlängerung um ein Jahr durch Nationalrat 10.06.2010
Frühester voraussichtlicher Behandlungstermin (durch National- und Ständerat) 30.05.2011
Frühester voraussichtlicher Abstimmungstermin 27.11.2011

 

Die Historie von Thomas Minders Initiative präsentiert sich wie folgt:

Etappe Datum
Beginn Unterschriftensammlung 31.10.2006
Einreichung bei Bundeskanzlei 26.02.2008
Botschaft des Bundesrats ans Parlament 05.12.2008
Erste Beratung Gegenentwurf im Ständerat 13.12.2010
Erste Beratung Gegenentwurf im Nationalrat 14.12.2010
Nichteintretensbeschluss Nationalrat, Rückweisung an Kommission 09.03.2011
Frühester nächstmöglicher Abstimmungstermin der Initiative (ohne Gegenentwurf) 27.11.2011

 

Zum Vergleich: Franz Webers Volksinitiative «Gegen Kampfjetlärm in Tourismusgebieten» wurde am 03.11.2005 eingereicht und gelangte keine zweieinhalb Jahre später, am 24.02.2008, zur Abstimmung.

Was oben nicht entnommen werden kann, ist jene Zeit, welche für die Vorbereitung der Initiative benötigt wurde. Letzteres strickt man nicht in fünf Minuten zusammen (die fahrig anmutende Ausschaffungsinitiative bildet wohl eher die Ausnahme), denn schliesslich will niemand wegen einer ungeschickten Formulierung eine Opposition entstehen zu lassen.

Zudem will das spätere Sammeln der Unterschriften organisiert sein. Ohne entsprechende personelle Unterstützung dürfte es schwierig werden, in 18 Monaten 100‘000 Unterschriften sammeln zu können. Darum sind vor dem Zeitpunkt des Sammelbeginns vermutlich nochmals sechs Monate hinzuzufügen.

Ungleich lange Spiesse

Auch wenn das Ausarbeiten von Gegenvorschlägen durch Bundesrat oder Parlament ihre Zeit benötigen, so ist jegliche Verzögerung gegenüber den Initianten mehr als unfair. Schon alleine die Tatsache, dass eine Volksinitiative zustande kommt, sollte Grund zum Nachdenken geben.

Wenn sich nämlich ein Komitee (ohne parteipolitische Absichten) veranlasst sieht, mit einer Volksinitiative aktiv zu werden und bereit ist, den finanziellen und zeitlichen Aufwand auf sich zu nehmen, und wenn dieses Komitee dann auch noch erfolgreich ist und die nötigen Unterschriften fristgerecht zusammenbringt, dann haben offensichtlich anderen «Input-Kanäle» versagt – oder im Parlament wurden entsprechende Eingaben bisher zurückgewiesen.

Für dieses «Versagen» sollten die Initianten sicher nicht noch mit einer langen Behandlungsfrist bestraft werden. Ganz im Gegenteil: Mindestens 100‘000 Personen aus dem Stimmvolk, also des Auftraggebers von Parlament und Bundesrat, sind der Auffassung, dass das fragliche Thema behandelt werden müsse. Wenn in der Wirtschaft der einzige Auftraggeber anklopft und um Behandlung eines Geschäfts bittet, dann wird gerannt.

Doch gewissen Mehrheiten im Parlament scheint es am nötigen Respekt gegenüber jenen 100‘000 Personen zu fehlen, die die fragliche Initiative unterschrieben hatten. Pikanterweise stammen einige Parlamentarier aus Kantonen, welche nicht einmal so viele Einwohner haben und die auch nur mit einem Bruchteil dieser Personenzahl in ihr Amt gewählt wurden. Sie sollten erst recht diesen 100‘000 Personen ihren Respekt erweisen und gegen die Sisteritis ankämpfen.

Lebenswerk Volksinitiative?

Unfair ist diese Verzögerung aber auch deshalb, weil sich Bundesrat und Parlament mehr Zeit nehmen können für die Beurteilung der Initiative, die Ausarbeitung eines möglichen Gegenentwurfs und die Beratungen in den Räten, als die Initianten selber fürs Ausdenken der Initiative und fürs Sammeln der Unterschriften zur Verfügung hatten.

Das ist etwa so wie bei der Spielshow «1 gegen 100»: 100 Kandidaten haben sechs Sekunden Zeit um eine Frage zu beantworten. Für den einen Gegenkandidaten gibt es jedoch kein Zeitlimit – und er kann auf Joker zurückgreifen. Das nennt man dann faire Spielregeln.

Im politischen Alltag sind die Initianten die 100 Kandidaten. Sie haben 18 Monate Zeit um 100‘000 Unterschriften zu sammeln. Für den Gegenkandidaten, Bundesrat und Parlament, gibt es aber kein Zeitlimit – und sie können auf frei definierbare Joker zugreifen. Und das nennt man dann ebenfalls faire Spielregeln…

(Das Parlament hätte sich eigentlich an Fristen zu halten. Sanktionen, wie etwa Lohnkürzungen oder Boni-Verweigerungen wegen Nichteinhaltens dieser Fristen, gibt es für die Parlamentarier hingegen keine 😉 .)

Schliesslich sei noch ein letzter Punkt genannt. Es darf nicht sein, dass eine Volksinitiative schon fast zu einer Art Lebenswerk einer Person oder einer Organisation wird, weil sich das Ganze so lange hinzieht.

Das Parlament wird alle vier Jahre erneuert, die Urheber einer Initiative bleiben hingegen die gleichen. Letztere brauchen für dieses eine Anliegen einen langen Atem bis sie dann irgendwann (fünf Jahre später) in den Abstimmungskampf steigen können. Ob sich dann noch Kräfte finden lassen, die für diese Sache kämpfen mögen, ist nicht sicher.

Verzögern ist Programm

Obschon oben die Rede von Volksinitiativen die Rede war, wäre es falsch zu glauben, dass die Sisteritis nur bei dieser Form von Begehren auftritt. Sehr viele Vorstösse der Parlamentsmitglieder selber werden teilweise über Jahre verzögert und dies nicht immer aus logisch nachvollziehbaren Gründen. Aber wie eingangs erwähnt: Es ist eine heimtückische Krankheit, deren tatsächliche Ursachen noch immer unbekannt sind…

Selbstverständlich kann man hier dagegen halten, dass das Parlament einfach zu viel zu tun habe und darum Prioritäten setzen müsse. Doch wenn Anderes immer wichtiger ist als gewisse, immer wieder verzögerte Vorstösse, dann wäre es wohl an der Zeit, diese Vorstösse nach einer bestimmten Frist zurückzuziehen.

Vielleicht beschäftigt sich das Parlament aber ganz einfach mit zu vielen Detailfragen, welche unter Umständen deshalb eine Mehrheit finden, weil sie inhaltlich ziemlich technisch sind und von niemandem richtig verstanden werden. Weil man sie nicht versteht, wagt es auch niemand, sie zurückzuweisen, denn dafür bräuchte es Argumente, welche mangels Wissens niemand vortragen kann.

Es ist bestimmt kein Zufall, dass die umstrittensten Vorlagen jene sind, von denen viele glauben, eine Ahnung zu haben um mitreden zu können und dass im Gegenzug jene Vorlagen am unbestrittensten sind, zu deren Inhalt kein Interessenvertreter im Parlament sitzt. Es fehlen da einfach die «Experten», damit ein Expertenstreit überhaupt stattfinden kann.

Schliesslich dürften die beiden Räte aber auch selber an der eigenen Überlastung schuld sein. Es ist immer wieder erstaunlich, in wie vielen Vorstössen der Bundesrat in seiner schriftlichen Antwort jeweils auf einen anderen, ähnlichen oder gleichen Vorstoss hinweist, welcher zeitlich gar noch nicht so weit zurückliegt.

Man scheint einfach einmal einen Vorstoss einzureichen und überlässt es dann dem Bundesrat beziehungsweise der Bundesverwaltung, ähnliche Anliegen aus früheren Jahren aufzustöbern. Solche «Dubletten» beschäftigen unnötig die Bundesverwaltung, den Bundesrat und nicht zuletzt auch das Parlament.

Dabei würde es wohl schon viel bringen, wenn die Parlamentarier zuerst in ihrer eigenen Geschäftsdatenbank nach ähnlichen und früheren Vorstössen suchen würden, bevor sie einen Vorstoss einreichen. Diese Datenbank wird schliesslich auch der Öffentlichkeit zugemutet…

Erstaunlich ist ebenfalls, weshalb Vorstösse eingereicht werden, von denen man sich bereits im Vorfeld ausdenken kann, dass sie chancenlos sind. Warum sie trotzdem eingereicht werden, können wohl nur die Betroffenen abschliessend beantworten.

Legislaturziele fürs Parlament

In sechs Monaten endet die 48. Legislaturperiode. Das heutige Parlament hinterlässt einen unaufgeräumten Arbeitsplatz mit vielen Pendenzen. Eigentlich dürfte man es nicht entlassen, sondern man müsste es nachsitzen lassen. Wobei – vielleicht ist es besser, es so schnell wie möglich zu entlassen… Wie auch immer: Wahlen lassen sich nicht verschieben und ein Nachsitzen ist bestenfalls mittels Sondersessionen möglich.

Der Bundesrat definiert jeweils alle vier Jahre eine Legislaturplanung und verfasst jährlich seine Jahresziele. Es wäre wünschenswert, wenn sich auch beide Räte zu Beginn jeder neuen Legislaturperiode inhaltliche Ziele setzen würden. Daran könnten (oder müssten) sich die Parlamentarier während den nächsten vier Jahren schwergewichtig orientieren – statt sich in Details zu verlieren.

Am Erreichen der Ziele – gäbe es denn solche – liessen sie sich auch messen. Und es wäre dank Fokussierung auf inhaltliche Schwerpunkte bestimmt ein wirksames Mittel gegen die Sisteritis…

2 Antworten auf „Verschieben und nachsitzen“

  1. Ganz schlimme Ausbrüche von Sisteritis gibt es auch immer wieder bei der Thematik Managed Care – da sind sie schon seit 2004 dran… 😉
    http://www.parlament.ch/d/suche/seiten/geschaefte.aspx?gesch_id=20040062

    Lustig, wie man dagegen in anderen Bereichen sogar 2 komplette Revisionen (ich nenne keine Details…) innerhalb eines Jahres durchwürgen kann. Und gerade bei den diesbezüglichen Debatten ist doch immer wieder zu hören, dass gesundheitliche Beeinträchtigungen mit etwas Willenskraft durchaus überwindbar wären, da müsste man doch meinen, dass das für Sisteritis auch gelten dürfte… 😉

  2. @ Mia
    Ja, die Historik dieser Thematik hat es auch in sich, ebenso wie wohl noch unzählige weitere Beispiele. Natürlich ist nie jemand schuld dran, was der Vorteil eines Kollektivs ist. Darum der Vorschlag, gleich das ganze Kollektiv nachsitzen zu lassen… 😉

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