Die jüngsten Zahlen der SBB über die vergangene und zukünftige Entwicklung lassen aufhorchen. Auch die Verkehrspolitik sieht zurzeit einen weiteren Ausbau der Infrastruktur vor. Unser Mobilitätsverhalten hinterfragt derweil niemand.
Als die SBB gestern über den Geschäftsgang des abgelaufenen Jahres informierten, war einmal mehr zu hören, dass die SBB Opfer ihres eigenen Erfolges seien. Fast eine Million Menschen, oder um es genauer zu sagen: knapp 951‘000 Personen, beförderte die SBB im 2010 durchschnittlich pro Tag, was einer Zunahme von sechs Prozent entspreche. Die NZZ verwendete online dazu den Ausdruck «drängten sich in den Zügen», so als ob gleich alle beförderten Personen stehend und dicht aneinander gedrängt von A nach B gebracht wurden…
Unser aller Verdienst
Sollte sich diese Entwicklung in diesem Jahr fortsetzen, dürfte Andreas Meyer, der CEO der SBB, gegen Ende 2011 dem einmillionsten Kunden die Hand schütteln können. Da es sich bei diesen Zahlen allerdings nur um Schätzungen handelt und die Passagiere nicht einzeln abgezählt werden, wird er sich dazu einen unbekannten Kunden aussuchen oder gleich ganz darauf verzichten müssen.
Gelegentlich tendieren wir dazu, die SBB mit der Schweiz gleichzusetzen und vergessen alle anderen Unternehmen. Der Verband öffentlicher Verkehr (VöV) spricht mit Bezug aufs Jahr 2008 von insgesamt 1,886 Millionen beförderten Personen, womit alle anderen Unternehmen des Nah- und Fernverkehrs nochmals ein x-faches an Personen befördern wie die SBB selbst.
Vom eigenen Erfolg zu sprechen, wie das die SBB tun, ist natürlich anmassend. Deutlich wird das bei den Zahlen fürs vergangene Jahr, wonach die Verschuldung der SBB weiter zugenommen habe. Diese Verschuldung wäre noch wesentlich grösser, hätte das Schweizer Stimmvolk in der Vergangenheit nicht unzähligen Bahninfrastruktur-Projekten und deren Finanzierung zugestimmt.
Die SBB, wie auch viele andere Transport-Unternehmen, würden heute wohl ein Mauerblümchen-Dasein fristen, wären vor Jahren nicht Projekte wie die NEAT, Bahn2000 usw. aufgegleist und finanziert worden. So gesehen haben wir alle, die diese Projekte bejahten und finanzierten, etwas an diesem Erfolg beigetragen.
Das werden wir wohl auch weiterhin tun. Was heute von der Bahn2000 vorliegt und mit dem markanten Fahrplanwechsel am 12.12.2004 in Betrieb genommen wurde, gilt erst als Etappe 1. Im FinöV-Fond, dem Geldtopf, aus dem alle diese Grossprojekte aus Einnahmen von Mehrwertsteuer, Schwerverkehrsabgabe und Mineralölsteuer finanziert werden, stehen noch einige Mittel für weitere Projekte zur Verfügung.
Die Etappe 2, welche unter der Bezeichnung «Zukünftige Entwicklung der Bahninfrastruktur» (ZEB) vorangetrieben wird, werden die verbleibenden Mittel der Bahn2000-Finanzierungsmittel investiert. Ausbauprojekte im Umfang von 5,4 Milliarden Franken wurden bereits im 2009 gesprochen.
Noch grösserer Finanzbedarf
Doch das reicht nicht. Unter der Bezeichnung «Bahn 2030» sollen weitere Projekte – und vor allem deren Finanzierung – aufgegleist werden. Das Bundesamt für Verkehr geht dabei von einem Wachstum des Personenverkehrs von 60 Prozent bis ins Jahr 2030 aus.
Der VöV spricht sich zudem dafür aus, die Finanzierungssicherheit langfristig zu regeln. Die SBB sprachen gestern nicht nur von 20 Milliarden Franken, welche bis 2030 für neues Rollmaterial investiert werden sollen und welche sie selber zu berappen hat, sondern auch von Investitionsbegehren von mehr als 40 Milliarden Franken für den Substanzerhalt und die Weiterentwicklung der Infrastruktur.
Auch wenn für Letzteres die SBB wohl auch einen Anteil selber tragen müssen; ganz ohne Unterstützung durch die öffentliche Hand geht es wohl kaum. Dabei ist hier erst die Rede von den SBB. Andere Transport-Unternehmen dürften einen ähnlichen Finanzierungsbedarf haben.
Selbst wenn es zu einer Finanzierungslösung der unzähligen Begehrlichkeiten kommt, ist fraglich, ob damit das angenommene, zukünftige Verkehrsvolumen bewältigt werden kann. Wie bereits erwähnt ist im Personenverkehr die Rede von einer Zunahme von 60 Prozent, im Güterverkehr gar von 72 Prozent.
Auf welchen Annahmen diese Werte beruhen, ist nicht klar. Klar ist hingegen, dass heute der motorisierte Individualverkehr 80 Prozent der von jedem durchschnittlich täglich mit Auto, Bahn usw. zurückgelegten 37 Kilometer ausmacht. Klar ist auch, dass zwar die zurückgelegten Personenkilometer mit dem öffentlichen Verkehr in den letzten 35 Jahren leicht zugenommen hat, dass sich diese Anzahl Personenkilometer beim motorisierte Individualverkehr aber verdoppelt hat.
Klar ist auch, dass die vom motorisierten Individualverkehr benötigten Treibstoffe nicht ewig reichen. Eine Verknappung würde zwangsläufig zu einem Ausweichen auf den öffentlichen Verkehr führen.
Schwer abschätzbare Verkehrsbedürfnisse
Fraglich ist nun, was die angenommene Zunahme des Personenverkehrs von 60 Prozent alles abgedeckt. Ein Teil dürfte eine erhöhte Mobilität sein, also dass wir mehr und längere Fahrten beanspruchen. Je kürzer die Fahrzeiten werden, desto attraktiver wird es, in weiter entfernteren Regionen zu arbeiten oder dorthin «schnell» einmal einen Abstecher zu machen. So ist beispielsweise dank neuem NEAT-Lötschbergtunnel das Wallis oder dank neuem Grauholztunnel Zürich/Bern für viele näher gerückt.
Ein Teil dürfte auf das Bevölkerungswachstum zurückzuführen sein. Die zunehmende Überalterung wird zudem mehr ältere Personen dazu zwingen, ihr Auto stehen zu lassen oder gleich ganz darauf zu verzichten und dafür immer auf den öffentlichen Verkehr zu setzen.
Nicht zu vergessen ist dabei, dass es die heute «Jungen» und «Mobilitätsverwöhnten» sind, welche im 2030 zum «alten Eisen» gehören werden und dass es heute schon im Trend liegt, dass ältere Menschen «rausgehen» und nicht bloss zu Hause herumsitzen, so wie das vielleicht noch unsere Grosseltern taten. Das Mobilitätsbedürfnis der im 2030 älteren Generation dürfte somit höher sein als jenes der heutigen älteren Generation.
Schliesslich wird es noch unzählige Umsteiger unter der arbeitenden Bevölkerung geben, welche grösstenteils noch eine Familie zu ernähren haben und sich teuere Treibstoffpreise kaum leisten können.
Beim Güterverkehr werden heute knapp 60 Prozent auf der Strasse transportiert. Diese Strassentransporte haben sich seit 1970 verdreifacht. Das Bundesamt für Verkehr (BAV) spricht wie bereits erwähnt von einer Zunahme im Güterverkehr bis ins Jahr 2030 von 72 Prozent.
Ob es sich dabei «nur» um eine Verlagerung eines Teils der 60 Prozent Strassentransporte handelt oder auch um zusätzliche Transportbedürfnisse, ist unklar. Eine Verteuerung der knapper werdenden Treibstoffe dürfte auf jeden Fall auch hier zu einem «Umsteigen» führen.
60 Prozent mehr Personen, 72 Prozent mehr Güter, beide auf den gleichen Trassen: Wie soll das gehen?
Mehr als eine Frage der Kapazitäten
Bei der Verkehrspolitik der Schweiz geht es aber noch um mehr als nur um Kapazitätsfragen bei der Nutzung der bestehenden und neuen Infrastruktur sowie um dessen Finanzierung.
Es geht auch um Raumplanung. Verkehrstechnisch gut erschlossene Regionen profitieren und werden oder bleiben dadurch attraktiv. Doch die grünen Wiesen, über welche man neue Schienen legen könnte, sind seltener geworden.
Jedes Bauprojekt wird immer komplizierter und dadurch teurer. Immer häufiger müssen unter- oder überirdische Bauten geplant werden, weil das «Erdgeschoss» bereits verbaut ist. Zudem werden die Ansprüche der Bevölkerung immer grösser. Jeder will zwar an gut erschlossener Lage lebe, aber den Verkehr vor der eigenen Haustür möchte keiner. Darum soll immer häufiger unter den Boden, was man unter den Boden legen – und finanzieren kann.
Mit der Raumplanung einher geht auch die «Lärmbewältigung». Zurzeit wurden noch immer nicht alle Lärmschutzmassnahmen umgesetzt, welche bisher geplant waren. Nun ist bereits die Rede von neuen Infrastrukturen, welche noch mehr Lärm mit sich bringen werden.
Auch die höhere Taktfrequenz – die Züge sollen bitte schön alle 15 Minuten in beide Richtungen und dies möglichst bis spät in die Nacht fahren – führen zu mehr Lärm. Es werden darum noch weitere Bedürfnisse im Bereich Lärmschutz laut werden.
Schliesslich stellt sich auch noch die Energiefrage. Für neue AKWs mag sich zurzeit niemand aussprechen, doch irgendwoher muss die Energie für 60 Prozent mehr Personen und 72 Prozent mehr Güter kommen.
Vermeiden statt bauen
Wir haben bisher immer von einer grenzenlosen Mobilität profitiert. Sich nicht mehr frei bewegen zu können würden viele als Beschneidung ihrer persönlichen Freiheit betrachten.
Die meisten vergessen dabei, dass sie nicht wirklich frei sind, wenn sie sich fortbewegen. Sie befinden sich nämlich immer auf einem vorgegebenen Weg – ausser sie kommen tragischerweise von der Strasse ab oder entgleisen mit dem Zug.
Wir sollten uns darum vom Gedankenmuster verabschieden, wonach Mobilität Freiheit bedeutet und uns stattdessen ein Ersatz-Gedankenmuster zulegen. Denn wenn man sich die oben geschilderte Entwicklung ansieht, sollten wir auch darüber zu diskutieren beginnen, ob eine grenzenlose Mobilität in Zukunft wirklich so nachhaltig sein kann, wie es die Schweizer Verkehrspolitik vorsieht.
Es scheint ein Fass ohne Boden zu sein, in welches wir immer mehr «hineinbuttern» und zu welchem unzählige wichtige Fragen zur Raumplanung oder zum Energiebedarf offen sind.
Gleichzeitig verfügen wir heute über mehr Kommunikationsmittel als noch vor 30 Jahren. Eine Telefon- oder gar Videokonferenz beispielsweise via Skype abzuhalten kostet nicht einmal einen Rappen mehr. Keine Kosten, kein Stau, geschonte Nerven, geringer zusätzlicher Energiebedarf, kein Zeitverlust durchs Zurücklegen eines langen Weges usw.
Wie dieses kleine Beispiel zeigt, gäbe es in gewissen (ortsunabhängigen) Bereichen durchwegs Alternativen, deren Förderung allerdings auf keiner Traktandenliste steht. Wir sollten darum nicht nur über den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur nachdenken, sondern auch darüber, wie wir verhindern können, diese Infrastrukturen dank (teilweise bereits bestehenden) Alternativen gar nicht erst bauen oder beanspruchen zu müssen.
Man kann es in allen Belangen, so auch im Verkehr, drehen und wenden wie man will: eine konsequente und nachhaltige Gesundung des Planeten ist nur möglich mit weniger Menschen. Das ergibt weniger Verkehr, weniger Energieverbrauch, weniger Nahrungsmittel- und Wasserbedarf und so weiter und so fort. Wann kommen wir zur Einsicht? Singles muss man unterstützen, nicht Familien – denn Singles sterben aus. Familien produzieren mehr Menschen und jeder zusätzliche Mensch nimmt den anderen etwas weg.
Was die Grosseltern betrifft, möchte in anfügen, dass auch schon meine Grossmutter ihr GA gern gebraucht hat, um mit ihren Freundinnen am Bodensee Kaffee zu trinken. Was dazukommen wird, ist dass nächste Generation der Pensionierten, auch noch WLAN im Zug und auf der Seeterrasse haben will, um auf Reisen das zu tun, was zu Hause genau so ginge.
Zu dem, was du am Schluss ansprichst, habe ich mir auch schon Gedanken gemacht. Wir hatten noch nie so Kommunikationssysteme wie heute und trotzdem pendeln wir mehr den je. Das passt für mich auch nicht zusammen.
Hmm, „eine konsequente und nachhaltige Gesundung des Planeten ist nur möglich mit weniger Menschen.“
Also da liesse sich ja durchaus was machen, ist quasi mein Spezialgebiet, effiziente Dezimierung meine ich… *lol* Andererseits soll sich das Problem ja laut Prohpezeihungen (2/3 den Menschheit werden sterben) dann von alleine lösen.
Und nicht vergessen, die Natur braucht uns nicht, doch wir brauchen die Natur. Das Problem wird sich so oder so ganz von alleine lösen….
@ Bruno Zoller
Da muss ich widersprechen. Singles brauchen mehr Energie als beispielsweise ein Paar, vorausgesetzt ein Paar nutzt die gleichen Mittel (z. B. Verkehrsmittel) oder die gleiche Infrastruktur (Wohnung). Singles verursachen auch mehr Verkehr als ein Paar, vorausgesetzt das Paar fährt zusammen. Und um sich fortzupflanzen kann man problemlos Single bleiben (bzw. allein erziehend).
@ Tinu
Stimmt, meine Aussage über unsere Grosseltern war etwas gar pauschal. Was hingegen eher zutreffen dürfte, ist, dass durch die höhere Lebenserwartung (dank teurem Gesundheitswesen) die älteren Menschen auch länger mobil sein werden (das hatte ich oben nicht erwähnt).
@ Chris
Wir haben inzwischen keine Zweifel mehr über Deine Kenntnisse in Deinem „Spezialgebiet“, womit sich eine weitere Erwähnung eigentlich erübrigt… 😉