Wenn sich gewisse Tragödien jähren, sollte die offizielle Schweiz nicht schweigen. Oder aber sie tut es aus Absicht…
Es ist kein Versehen, dass gestern, als sich die Katastrophe von Tschernobyl zum fünfundzwanzigsten Mal jährte, hier kein Beitrag zu dieser Tragödie erschien. Sie werden bestimmt über die übliche Medien ausreichend mit erinnernden Berichten versorgt worden sein.
In der Augenreiberei legte man den Fokus vielmehr darauf, wie die offizielle Schweiz gestern oder in den Tagen zuvor auf dieses traurige Jubiläum reagieren würde. Das Resultat ist ernüchternd: Es gibt keine Reaktionen.
Endlose Opfer-Zahl
Tschernobyl hat für die offizielle Schweiz vor 25 Jahren nicht stattgefunden. Gewiss, die Schweizer Aussenministerin Micheline Calmy-Rey reiste letzte Woche auf Einladung (!) des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch nach Kiew – um an der Geber-Konferenz für einen neuen Sarkophag für ein Nach- und Umdenken bezüglich Energieversorgung zu plädieren.
Doch gestern, wie auch in den Tagen zuvor, gab es kein Bekunden von Trauer, Bedauern oder Solidarität für die Tausenden von Opfern, welche dieses Katastrophe bisher gefordert hatte und wohl noch weiter fordern wird.
In der Ukraine wurden Kerzen in Gedenken an die Opfer angezündet, es wurden Blumen niedergelegt, es gab Gedenkgottesdienste. Die offizielle Schweiz schweigt, so als ob es sich um eine rein ukrainische Katastrophe handeln würde und dies obschon die Teilnahme an der internationalen Konferenz letzte Woche genau das Gegenteil beweist.
Die so genannte friedliche Nutzung der Kernenergie, vom Abbau des Urans bis zur ungelösten Entsorgung der radioaktiven Abfälle und der Bewältigung von Unfällen und deren Folgen für Mensch und Natur sind keine nationalstaatliche Angelegenheiten. Radioaktive Wolken, radioaktiv verseuchte Gewässer, radioaktiv verseuchte Nahrungsketten und Lebenskreisläufe machen keinen Halt vor von Menschen geschaffenen Landesgrenzen.
Über die genauen Opferzahlen herrscht Ungewissheit. Währenddem die einen noch immer bloss von 4000 Todesopfer sprechen, rechnen andere mit weit über einer Million.
So genau lassen sich die Opfer auch nicht zählen, denn die tatsächlichen Ursachen einer Erkrankung sind nicht immer eindeutig eruierbar und die Spätfolgen der Verstrahlung machen sich erst jetzt langsam bemerkbar.
Zudem gibt es zurzeit nicht einmal in der Schweiz ein nationales Krebsregister. Wie kann man da erwarten, über ein so grosses Gebiet den Überblick über die Häufung gewisser (Strahlen-)Krankheiten zu haben?
27 Millionen Euro – aber nicht für die Opfer
Nun soll ein neuer Sarkophag den alten ersetzen. Er soll 100 Jahre halten – bis auch er von der Strahlung zu mürbe geworden ist und ersetzt werden muss. Die Staatengemeinschaft wird sich also noch einige Male zusammenfinden müssen um Geld für die zukünftigen Sarkophage zu sprechen – in Kürze wohl auch für die Unglücksreaktoren in Fukushima…
Man mag eine Hülle um die Unglücksreaktoren stülpen. Aber was ist mit Mensch und Natur in den verseuchten Gebieten?
Es mag Sperrzonen geben, in welche sich die Menschen nicht begeben dürfen. Das reicht aber nicht. Noch heute sind selbst in der Schweiz noch immer Spuren von damals in Nahrungsmitteln wie Pilzen nachweisbar. Sie gelangen über die Nahrungskette in unsere Körper.
Zudem lässt sich die Tier- und Pflanzenwelt nicht einsperren. Importverbote für tierische oder pflanzliche Produkte bringen wenig, wenn sich verseuchte mit gesunden Tiere und Pflanzen weiter vermehren können – ungeachtet irgendwelcher Landesgrenzen oder Sperrzonen. Es wird darum noch unzählige Generationen brauchen, bis sämtliche Spuren «ausgewaschen» sein werden.
Das «beste» Rezept gegen diese schier endlose Kette scheint die Verdrängung zu sein. Vielleicht ist das auch der Grund, weshalb die wohl grösste Katastrophe der Nachkriegszeit noch immer ein offizielles Schweigen auslöst…
Es wäre allerdings auch möglich, dass dahinter Absicht steckt. Läppische 27 Millionen Euro soll die Schweiz seit 1986 «für Sicherheitsmassnahmen in Tschernobyl sowie für die Verbesserung der Sicherheitsmassnahmen von Atomkraftwerken des gleichen Typs wie in Tschernobyl», wie das EDA in einer Medienmitteilung vor knapp zwei Wochen schrieb.
Das sind rund eine Million Euro pro Jahr, welche gemäss dieser Mitteilung nicht einmal unbedingt in die Ukraine flossen. Und von Opferhilfe oder Unterstützung der medizinischen Versorgung ist da nicht im Ansatz die Rede. Es lebe die «humanitäre Schweiz»!
Zum Vergleich: Bis Jahresende lässt der Bund den Impfstoff für die Schweinegrippe, dessen tatsächlicher Nutzen nicht unumstritten ist, vernichten. Diese 3,4 Millionen Dosen kostete die Schweiz 56,4 Millionen Franken.
Einfach verdrängen, oder?
Wenn angesichts dieser Zahlen die Schweiz in 25 Jahren also lediglich 27 Millionen Euro «für Sicherheitsmassnahmen in Tschernobyl sowie für die Verbesserung der Sicherheitsmassnahmen von Atomkraftwerken des gleichen Typs wie in Tschernobyl» aufbringen kann, dann beschleicht einem das Gefühl, dass dieser Betrag absichtlich so tief gehalten wird um wenig Aufhebens auszulösen.
Das ruft die politische Rechte nicht auf den Plan, für welche sowieso jede Million ins Ausland eine Million zu viel ist. Das ruft die politische Linke nicht auf den Plan, die nicht mit dem Finger auf hohe finanzielle Folgekosten eines AKW-Unfalls zeigen kann. Und das bringt schliesslich die bisher AKW-befürwortende politische Mitte nicht in Bedrängnis.
Dieses Taschengeld von 27 Millionen Euro ist wahrlich ein gut schweizerischer Kompromiss, nicht wahr? Verdrängen wir doch einfach die Opfer, ganz so, wie das die offizielle Schweiz auch macht…
Selbst Du schreibst von „wenn“.
Man vermutet, ist sich aber nicht sicher. Genosse Tabak oder Genosse Wodka könnte auch an anderen Folgen als an denen von Tschernobyl gestorben sein.
Auch in den Alpen gibst Radioaktivität. Wollen wir nun auch die Berge abbauen?
Geht man zum Arzt/Zahnarzt und wird geröngt kommt man ja auch mit Strahlen in Berührung. Jetzt müsste ich natürlich noch nachschlagen obs Alpha- oder Betastrahlen sind. Aber warum seckelt der Arzt oder die Krankenschwester dann jeweils raus? Ja, die Menge. Aber wenn ich innerhalb eines Monats 2x beim Zahnarzt und einmal beim Arzt geröngt werde? Dann betrifft es nur eine Einzelperson und ist nicht der Mühe wert sich über die Folgen Gedanken zu machen.
@ Ate
Die Dosen Radioaktivität, welche wir in der Natur oder welche wir beim Röntgen abbekommen sind nichts im Vergleich der Dosen, welche in den verstrahlten Gebieten herrschen. Wir sollten die Dinge, wie sie rund um Tschernobyl sind, nicht verniedlichen.
Titus, ich verniedliche nichts, aber gib mir bitteschön Fakten damit auch ich das Ausmass erkennen kann. Gell, kannst Du nicht. Warum auch solltest Du es können, selbst Wissenschaftler wissen es nicht. Aber dann schön mal die Gefahrengeige hochschrauben!
Einen Russen kenne ich durch die Medien. Der hat sich geweigert aus dem Gefahrengebiet wegzuziehen und man staune, der lebt immer noch.
Titus, in der Zwischenzeit weisst Du, dass ich grüner nicht werden kann, aber jetzt wo es um den Ausstieg geht, kommts es mir durch als ob ihr krankhaft besessen seid und nur im Hier lebt, anstatt zu sehen, dass das momentan ein Ding der Unmöglichkeit ist, da doch immerhin noch 40% Strom fehlen würden.
Woher wollt ihr den auf die Schnelle holen? Klar doch, einkaufen in Frankreich. Aber ist das die Lösung? Nein, das ist verlogen.
Wir alle, selbst die Politiker die ihr anklagt sind doch für einen Ausstieg, nur sehen wir halt die Realität. Ich kann damit leben, wenn ich zeitbedungen die Waschmaschine oder den Kochherd nicht bedienen kann. Auch fällt es mir nicht schwer im Winter in der Wohnung mit einem dicken Pullover rumuzulaufen, anstatt mit einem T-Shirt. Ich könnte es, obwohl mein Abo anders läuft, es mir diese 40% Atomstrom noch zusteht. Ich kanns, aber können es auch diese Atomstromgegner? Stell mir grad diese Atomstromgegener-Bibeli vor, wenn sie am Ranzen frieren.
@ Ate
Wie ich schon im Beitrag schrieb: Nicht einmal die Schweiz kennt ein nationales Krebsregister. Wie können wir da erwarten, über ein so grosses Gebiet den Überblick über die Häufung gewisser (Strahlen-)Krankheiten zu haben? Unbestritten ist die Häufung nicht und unbestritten sind auch das häufige Auftreten von Symptomen, wie sie bei hoher Strahlung auftreten, nicht. Nur kennt man die genau Anzahl nicht.
Den Russen, der nicht wegzog und noch immer lebt, findest Du in allen verstrahlten Gebieten der Welt. Es wird ihn bestimmt auch in Fukushima geben. Aber eine Schwalbe macht noch keinen Frühling. Wie viele wären gestorben, wenn sie nicht weggezogen wären? Das ist eine hypothetische Frage, die wohl niemand beantworten kann.
Auch von grüner Seite her weiss man ganz genau, nicht sofort, also morgen früh um sechs, aus der Atomenergie aussteigen zu können. Darum geht es ja auch nicht. Es geht darum, Druck aufzusetzen, damit endlich in die erneuerbaren Energien investiert und nicht immer nur bloss davon gesprochen wird. Damit verbunden ist auch die etwas in Vergessenheit geratene Frage der Erdölvorkommen und die Frage der CO2-Reduktion. Diese so genannten Energiewende wird uns noch die nächsten drei oder mehr Jahrzehnte beschäftigen.
Je früher wir damit beginnen, uns um Alternativen zu kümmern – so meine Überzeugung – desto unabhängiger werden wir sein und desto grösser wird der wirtschaftliche Wettbewerbsvorteil sein. Die Wirtschaft hat nämlich ein grosses Interesse an einer sicheren Energieversorgung. Produktionsstandorte werden nicht dort festgelegt, wo die Energieversorgung nicht sichergestellt ist…
@Ate
nicht mal die Russen sind so blöd, ein Sperrgebiet eizurichten, wenn es nicht gefährlich wäre …auch die Japaner nicht, und selbst um die aargauischen AKW’s ist die Krebshäufigkeit höher… vielleicht wegen der Strahlung, den Hochspannungsleitungen oder dem warmen Flusswasser …
Wenn rechte für AKW‘ plädieren, dann fällt sofort der höhere Strompreis bei einem Ausstieg ….
Ein Gau ist auch ein partieller Ausstieg, der führt auch zu weniger Strom und höheren Kosten, und dazu noch zu etwa 200Mia. Schaden und zu Landverlust für einige Jahrzehnte. Der wirtschaftliche Schaden ist wohl vernachlässigbar?