Wir bauen mal und schauen später weiter

Wie der Strom in Zukunft auch immer produziert wird: Ohne Stromleitungen geht fast gar nichts. Deren Ablösung oder Erweiterung jedoch schon zu planen, bevor die neue Energiepolitik der Schweiz und Europas klar ist, macht wenig Sinn.

Heute beginnt der Atomenergie-Ausstieg in der Schweiz – vielleicht. Zumindest will heute der Bundesrat an seiner wöchentlichen Sitzung über die Zukunft der Energieversorgung der Schweiz entscheiden – oder auch nicht. Was er auch immer tut oder sein lässt, es hat in jedem Fall Auswirkungen auf die anstehende Strom-Debatte im Parlament in der Sommersession anfangs Juni.

Viel landdurchquerendes Altmetall

Just einen Tag vor dem bundesrätlichen Entscheid über die weiteren Schritte in Sachen Stromversorgung meldete sich auch noch die nationale Netzwerkbetreiberin Swissgrid zu Wort, also jene Organisation, welche quasi den Verkehr auf dem Schweizer Stromnetz regelt, inklusive der «Ein- und Ausfahrten» zum Ausland.

Geladen hatte Swissgrid eigentlich zur Medienkonferenz übers Geschäftsjahr 2010. In der bisherigen Medienberichterstattung (1, 2, 3) konnte man aber nichts zum unterbruchsfreien Betrieb, der transportierten Energiemenge von über 80‘000 Gigawattstunden, vom massiven Umsatzeinbruch gegenüber dem Vorjahr oder zum Jahresergebnis entnehmen.

Aufgrund der aktuellen Energiedebatte interessierte vielmehr alles andere, was die Vertreter von Swissgrid zu sagen hatten. Ganz unschuldig sind sie an dieser Situation nicht; fand die Medienkonferenz übers Geschäftsjahr 2009 noch eine Woche früher statt, wurde sie in diesem Jahr «rein zufällig» einen Tag vor der heutigen Bundesratssitzung angesetzt…

Auch dass vor allem über alles andere, nur nicht über die Geschäftszahlen berichtet wird, ist kein Zufall. Swissgrid nutzte geschickt die Gunst der Medienstunde um mehr über ihre aktuellen und zukünftigen Sorgen zu sprechen als über die vergangenen Tatsachen.

In diesem Zusammenhang ist es gut zu wissen, dass Swissgrid zurzeit erst die nationalen Netze betreibt, diese aber ab 2013 auch übernimmt. Ab diesem Zeitpunkt ist sie also auch zuständig für den Unterhalt und die Erneuerung des nationalen Stromnetzes.

Von Letzterem hört man sowohl von Swissgrid als auch vom Bundesamt für Energie, dass dieses im Durchschnitt 40 Jahre alt sei. Weiter ist von der noch jungen Netzbetreiberin zu hören – sie ist von Gesetzes wegen erst seit 2009 aktiv – dass in den letzten zehn Jahren lediglich 150 Kilometer an Stromleitungen erneuert wurden. Bei einer Gesamtlänge von 6‘700 Kilometern entspricht das nur gerade rund zwei Prozent.

Auf gut deutsch heisst das: Die heutigen Netzinhaber haben nur gerade das Nötigste gemacht. Etwas salopp ausgedrückt werden sie der Swissgrid per 2013 einen Haufen landdurchquerendes Altmetall übergeben.

Ungereimte Investitionsplanung

Insofern ist die Forderung, bis ins Jahr 2020 rund 1000 Kilometer Stromleitungen ersetzen zu wollen, zwar berechtigt. Doch es bleiben viele Fragen. So gibt Swissgrid in ihrem gestern veröffentlichten Factsheet bekannt, dass zwei Drittel der Leitungen über 40 Jahre alt seien. Welche Lebensdauer diese aber haben, wird offen gelassen.

Wer rechnen kann, merkt auch, dass diese «alten» zwei Drittel knapp 4‘500 Kilometer entsprechen. Aber nur 1‘000 Kilometer sollen bis in neun Jahren bestehende Leitungen ersetzen oder zusätzlich neu gebaut werden.

Darum ist es schwer verständlich, weshalb Swissgrid in Anspielung aufs Alter der Stromleitungen meint, die Energiewende sei mit dem heutigen Netz kaum machbar. Wenn das Alter per se ein Problem ist, dann müssten doch 4‘500 Kilometer erneuert werden und nicht bloss 1‘000 Kilometer.

Dem Factsheet kann zudem entnommen werden, dass der ganze «Spass» sechs Milliarden Franken kosten soll. 1,5 Milliarden sind für den Ausbau geplant, 4,5 Milliarden für die Erneuerung. Das heisst, für die Ablösung der vermeintlich veralteten Leitungen von 1‘000 Kilometer sind nicht einmal alle sechs Milliarden vorgesehen.

Interessant ist auch eine andere Tatsache: Neue Leitungen zu bauen dürfte sicher teurer und aufwändiger sein als bestehende Leitungen auszuwechseln. Für Letzteres muss nicht unbedingt der ganze Planungs- und Baubewilligungsprozess durchlaufen werden, man kann auf Bestehendes zurückgreifen.

Trotzdem spricht Swissgrid mehr von einem Ausbau zwecks Verhinderung von stauenden Durchlauf-Engpässen, welche insbesondere durch die erneuerbaren Energien entstehen könnten, als von einer Erneuerung des Netztes. Der teurere Ausbau macht mit 1,5 Milliarden aber «nur» einen Viertel der gewünschten Investitionen aus.

Merkwürdige Argumente

Stutzig macht dabei ebenfalls eine der Grundbotschaften des gestrigen Medienauftritts. So hiess es, dass bis zum endgültigen Bau einer neue Leitung im Einzelfall mit bis zu 30 Jahre zu rechnen sei. Selbst im «Normalfall» ginge es noch neun bis zwölf Jahre, bis eine neue Stromleitung endlich stünde. Das sei, so die Botschaft, viel zu lange. Die Politik müsse diesen Prozess beschleunigen.

Nochmals: Drei Viertel der gewünschten Investitionen betreffen die Erneuerung, also das Ablösen bereits heute vorhandener Stromleitungen und Strommasten. Ist es da wirklich glaubwürdig, dass für die Planung, das Bewilligungsverfahren und den Bau mit angeblich durchschnittlich neun bis zwölf Jahren zu rechnen ist?

Stirnrunzeln löst auch die angebliche Überlastung des Stromnetzes aus. Dazu veröffentlichte gestern Swissgrid die folgende Grafik:

Der Stromverbrauch und damit der Strombedarf in der Schweiz ist in den Wintermonaten am höchsten. Die Grafik oben zeigt jedoch nicht die grösste Überlastung während den Wintermonaten, sondern mitten im Sommer. Die Überlastung hat somit weniger mit dem eigenen Strombedarf zu tun als vielmehr mit der Rolle als Stromdrehscheibe der Schweiz oder Europas.

Es kann nur vermutet werden, dass dies mit den Betriebszeiten der inländischen und ausländischen AKWs im Zusammenhang steht, welche jeweils im Sommer gewartet werden. Folglich müssen dann andere Stromproduktionsarten, insbesondere die Wasserkraft, in die Lücke springen. Das hat allerdings nichts mit der Energiewende zu tun – ausser dass erneuerbare Energien nicht alle im Sommer ausser Betrieb genommen werden müssen.

Wer sich zudem den dies- wie auch den letztjährigen Geschäftsbericht zu Gemüte führt, erhält den Eindruck, dass das gesamte Stromflussmanagement äusserst seriöse und breit abgesichert betrieben wird. Nichts wird dem Zufall überlassen.

Falls dieser doch einmal die Oberhand gewinnt, werden verschiedene Notregister gezogen. Darum verlief auch die oben dargestellt Überschreitung der Grenzwerte in geordneten Rahmen, selbst wenn die Grafik dramatisch aussieht.

Ungewisse Energiepolitik

Schliesslich macht noch etwas ganz anderes stutzig: Fast nichts ist klar. Klar ist nur, dass Handlungsbedarf für die in die Jahre gekommene Infrastruktur besteht. Klar ist auch, dass die politischen Akteure die Energie- und die damit verbundene Stromnetzpolitik verschlafen haben und darum Swissgrid von der Politik fordert, die bisherigen demokratischen Mitspracheprozesse zu beschleunigen.

Hätte die Politik diese Themen nicht verschlafen, wäre heute klarer, wo auf dem europäischen Kontinent in absehbarer Zukunft welche Strommengen unter welchen Bedingungen produziert und von wo nach wo transportiert werden sollen. Zurzeit ist aber noch nicht einmal klar, wie die unregelmässig anfallende Wind- und Sonnenenergie gespeichert werden soll.

Die Schweiz mit ihren bestehenden und geplanten Pumpspeicherkraftwerken möchte hier zwar gerne die «Batterie» Europas spielen. Doch bestimmt ist noch gar nichts. Darum ist auch noch unklar, von wo nach wo das so genannte Supergrid, also jenes Stromnetz, welches von Norden nach Süden und umgekehrt grosse Strommengen transportieren kann, verlaufen soll.

Genau deshalb ist es wenig verständlich, weshalb heute schon von neuen Stromautobahnen gesprochen wird, obwohl noch gar nicht klar ist, welchen Weg der Strom nehmen soll. Ob Swissgrid mit ihren Avancen Tatsachen schaffen will um im europäischen Markt (weiterhin) unumstösslich zu sein?

Im Factsheet zieht Swissgrid zudem einen Vergleich zur NEAT. Demnach koste die NEAT 18 Milliarden (Berechnungsbasis 2011), währenddem für den Ausbau und die Erneuerung mit den bereits erwähnten sechs Milliarden Franken zu rechnen sei.

Das mag zwar «nur» einem Drittel entsprechen und lässt noch offen, wie teuer der endgültige Aus- und Erneuerungsbau tatsächlich wird (die NEAT war ursprünglich auch für weniger veranschlagt).

Doch die NEAT wird nicht über die übliche Steuereinnahmen finanziert. Die geplanten Investitionen ins Stromnetz werden darum – auch wenn Swissgrid zurzeit nur mit einem Drittel der NEAT-Kosten rechnet – auch nicht aus dem Kaffeekässli des Bundesrats finanziert werden können. Über die Finanzierung in Sachen Stromnetz spricht heute aber (noch) niemand.

Entscheiden, planen, bauen

Der Ruf von Swissgrid nach einer Erneuerung der Stromleitungen und einem teilweisen Ausbau um bereits heute schon bestehende Engpässe zu bewältigen, mag berechtigt sein. Die kommunizierten Argumente wie auch die heute schon geplanten Investitionen lösen aber mehr Fragen aus als sie Antworten geben.

Heute entscheidet vielleicht der Bundesrat über seine Vision der Stromzukunft der Schweiz, im Juni gibt das Parlament eine weitere Stossrichtung vor. Zugleich bräuchte es klar Entscheide über die Energiepolitik auf europäischer Ebene. Erst dann ist klar, was in Sachen Stromnetze tatsächlich benötigt wird.

Bis dahin dürften vielleicht auch die ersten Ergebnisse der beiden Pilotversuche vorliegen, bei denen Stromleitungen in den Boden verlegt werden. Dies würde gesellschaftlich sicher schneller akzeptiert, sodass mögliche Mehrkosten durch schnellere Verfahren – weil weniger Einsprachen – wieder kompensiert werden könnten.

4 Antworten auf „Wir bauen mal und schauen später weiter“

  1. wie du schon bewusst oder unbewusst angesprochen hast:
    1. Müssen wir wahrscheinlich Strom importieren, und dies möglicherweise eher von Norden, als von Westen, da wir ja sauberen Strom wollen.
    2. Um weiterhin die Speicherseen (resp. billig importieren und teuer exportieren) nutzen zu können, müssen wir wie bis anhin Bandenergie importieren. Dieser wird vermehrt nicht von mehreren Anbietern kommen.
    Also braucht es ein leistungsfähiges Netz. (Nicht das ganze Netz muss hier eingebunden werden).
    3. Wie schon mehrfach bekannt, wird jede günstige Gelegenheit genutzt, die Strompreise zu erhöhen. Nur schon der Gedanke an die AKW-lose Zeit macht den Strom teurer :-).
    4. Mich nimmt nur Wunder, wie die Stromlieferanten das angedrohte Energieloch gefüllt hätte, bis die neuen AKW’s mal gebaut wären …
    Ich vermute, da wurde vorausschauend gelogen!

  2. @ Raffnix
    1./2. Wetterunabhängige Bandenergie können nach meiner Laien-Einschätzung nur Wasserkraft, Biomasse und Geothermie liefern (oder dann CO2-Schleudern). Das gilt sowohl für uns in der Schweiz wie auch im Ausland. Sonne und Wind können hingegen dazu beitragen, Speicherseen wieder zu füllen. Allerdings produzieren PV-Anlagen auch dann Strom, wenn die Sonne nicht prall scheint. Darum könnten sie an einem nicht regnerischen Sonntag beispielsweise immer noch zu viel produzieren um direkt als Bandbreite für die Kaffeemaschine oder den Sonntagsbraten verwendet zu werden. Das Schlüsselwort lautet hier Smartgrids, also intelligente Netze, die relativ schnell reagieren können.

    Darum, also weil überall in Europa das gleiche „Problem“ besteht, bin ich mir nicht sicher, ob wir für den eigenen Bedarf tatsächlich importieren müssen. Wo es mir plausibler erscheint, ist dann, wenn wir tatsächlich die „Batterie“ Europas spielen wollen, indem beispielsweise der Strom der Windanlagen in der Nordsee über ein praktisch verlustfreies Gleichstromkabel direkt in die Schweiz importiert wird.

    3. Stimmt, der Gedanke allein verteuert das Ganze… 🙂 Es wäre vielleicht auch wieder einmal an der Zeit daran zu erinnern, dass in der Schweiz der Strom heute günstiger ist als in vielen anderen europäischen Ländern. Warum das wohl so ist?

    4. „…vorausschauend gelogen…“: Den muss ich mir merken. 🙂 Und eine Antwort auf Deine Frage würde mich auch interessieren…

  3. 3. der Grund ist ganz einfach: Die Wasserkraft an sich ist günstig, und der Besitzer ist auch meist der Staat.
    Und: billige Bandenergie wird eingekauft und gespeichert, und als Spitzenenergie zu hohen Preisen wieder verkauft.
    ca. 40% der in der Schweiz benötigten Energie wird importiert und wieder exportiert.
    (Mit Ausnahme des letzten Jahres wurde mehr exportiert)
    4. Auch hier eine Antwort: Da wir grundsätzlich genügend Stronm haben (mehr als genug sogar hat DE) ist die Beschaffung rel. einfach. Und da die Effizienz wohl schnell Fortschritte macht (nur der Ersatz der reinen ele.Heizungen durch WP, die vor Jahren noch als die reine Wahrheit angepriesen wurde, macht ein AKW aus)ebenso wie das Wachstum der Einspeisungen, würd die Energielücke nicht eintreffen.

  4. …die Wetter- und Tageszeitabhängigkeit ist nur solange ein Thema, als die Stromnetze nicht tauglich sind, auch über weitere Distanzen den Strom zu transportieren.

    Wie ich vermute, gibt es immer einen Fleck auf dieser Welt, wo die Sonne scheint. Ausser wir vermiesen dies auch noch, wundern tut mich nichts mehr !

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