Ausgehverbote als Erziehungsmassnahme für wen?

Weil die Eltern angeblich ihrer «Erziehungs- und Aufsichtspflicht» nicht nachkommen, stutzt man nun einfach gleich allen flügge gewordenen Kindern die Flügel. Das ist einfach, denn die haben keine Lobby, welche für sie Partei ergreift.

In den Gemeinden des Kantons Bern liegt es zurzeit im «Trend», die Ortspolizeireglemente zu revidieren, also jene Reglemente, welche darüber Auskunft geben, was sich im öffentlichen Raum gehört und was nicht.

Bisher mangelnder Wille

Viele dieser Reglemente stammen noch aus den 1970er Jahren. Die Verabschiedung neuer rechtlicher Grundlagen auf kantonaler Ebene in Sachen Videoüberwachung ist in vielen Fällen der Auslöser dafür, weshalb man diese rechtlichen Werke auf kommunaler Ebene hervorgeholt hat um sie gleich grundlegend einer Prüfung und einer allfälligen Anpassung zu unterziehen.

Darunter fällt auch das Thema Ausgehverbote für Jugendliche, welches in gewissen Gemeinden anderer Kantone ebenfalls ein viel diskutiertes Thema war. Den Jungendlichen soll es dabei bis zu einem bestimmten Alter und ab einem bestimmten Zeitpunkt verboten sein, sich im öffentlichen Raum noch aufzuhalten.

Auch wenn dieser Punkt im Rahmen der Vernehmlassungskommunikation häufig als einer von mehreren Schwerpunkten hervorgehoben wird, ist er in einigen Reglementen nicht mehr ganz neu. Vielmehr mangelte es in vielen Gemeinden in der Vergangenheit am Durch- oder Umsetzungswillen.

Das heisst, es bringt wenig, etwas zu verbieten, wenn abends oder nachts keine Polizeieinheiten unterwegs sind um Jugendliche anzuhalten und sie nach dem Grund ihrer nächtlichen Präsenz zu fragen. Für die Bestellung der Polizeileistungen sind im Kanton Bern wiederum die Gemeinden zuständig. Es läge somit an ihnen, mit der Kantonspolizei eine Leistungsvereinbarung abzuschliessen, welche nächtliche Kontrollen miteinschliesst.

Denkbar wäre aber auch, dass dies mit gutem Grund gar nie verlangt wurde. Die heute in vielen Fällen diskutierte oder bereits umgesetzte Variante des Ausgehverbots beinhaltet nämlich schlimmstenfalls nur, dass Jugendliche auf den Polizeiposten mitgenommen werden, sollten sie nicht in Begleitung der Eltern oder einer von ihnen ermächtigen Person sein. Auf dem Polizeiposten müssen sie dann von einem Elternteil abgeholt werden.

Das mag im einen oder anderen Fall seine Wirkung zeigen. Trotzdem dürften dies eher die «falschen» Fälle sein, das heisst, es dürfte bei jenen Eltern Wirkung zeigen, die ihre Kinder normalerweise ohnehin nicht ohne Bedacht herumlungern lassen.

Jene Eltern, denen es hingegen egal ist, wann sich ihre Kinder wo herumtreiben, bei denen dürfte selbst das wiederholte Abholen ihrer Kinder auf einem Polizeiposten wenig Eindruck hinterlassen. Wozu soll man für diese Fälle noch die Polizei patrouillieren und dafür die Allgemeinheit bezahlen lassen?

Regel-Wirrwarr

Doch es gibt auch noch einen anderen Grund, weshalb derartige Ausgehverbote schwierig umzusetzen sind: Die unterschiedlichen Regelungen auf Gemeinde-, Kantons- und Bundesebene.

Dieses Schild gehört in Kürze der Vergangenheit an...

So liegt bei einigen Gemeinden die Grenze fürs Ausgehverbot beim Alter von 14, bei anderen bei 16 Jahren. Verkompliziert wird dies noch mit unterschiedlichen Zeiten. Bei einigen Ortschaften beginnt das Ausgehverbot ab 22 Uhr, bei anderen ab 23 Uhr. Es gibt sogar Fälle, bei denen das Ausgehverbot im Sommer bei 21 Uhr liegt, im Winter sogar bei 20 Uhr.

Das Bundesamt für Strassen (ASTRA) ist zurzeit dabei, den Schilderwald zu entrümpeln. Dazu gehört auch das Schild «Gottesdienst», welches vielfach vor einem Ortseingang steht. Ob so viel Wildwuchs in Sachen Ausgehverbot sollte dieses «Gottesdienst»-Schild vielleicht mit einem neuen ersetzt werden, welches vor allem die auswärtigen Jugendlichen darüber informiert, ob sie den Boden einer Gemeinde überhaupt noch betreten dürfen…

...und sollte vielleicht bald durch ein derartiges Schild abgelöst werden.

Selbst wenn dieser nicht ernst gemeinte Vorschlag umgesetzt würde, deckte er immer noch nicht alle Fälle ab, insbesondere jene nicht, bei denen der öffentliche Verkehr ins Spiel kommt.

Für die SBB gilt nämlich in der Regel Bundesrecht. Wer also beispielsweise um 21.01 Uhr an einem Ort ankommt, darf sich zwar innerhalb der Bahnhofsanlage frei bewegen. Gilt aber für den fraglichen Ort ab 21.00 Uhr ein Ausgehverbot, darf der betroffene Jugendliche keinen Fuss ausserhalb der SBB-Anlage abstellen – selbst wenn das Zuhause nur in drei Minuten Fussmarsch zu erreichen wäre.

Noch schwieriger dürfte es mit allen anderen öffentlichen Verkehrsmitteln wie etwa Bussen, Privatbahnen, Trams usw. sein, die nicht auf Trassen verkehren, die dem Bundesrecht unterstehen. Führt eine Linie durch mehrere Gemeinden, was heute wohl der Regel entspricht, so könnte der Fall auftreten, dass sich ein Jugendlicher in einer Gemeinde gar nicht mehr im Bus befinden dürfte oder dass er zumindest an einem Ort nicht, aber am anderen Ort schon aussteigen darf…

Langer Rede, kurzer Sinn: Selbst wenn man da oder dort etwas Kulanz walten lässt, zeigen diese Beispiele, wie grotesk eine Regelung auf kommunaler Ebene ist.

Deutlich wird das auch dann, wenn zwei Jugendliche, welche die gleiche Schulklasse im gleichen Ort besuchen, aber in unterschiedlichen Ortschaften wohnen. Der Eine müsste dann beispielsweise bereits um 22 Uhr zu Hause sein, währenddem der Anderen noch eine Stunde länger draussen «herumlungern» könnte.

Gegen die Grundrechte?

Ungeachtet dieser Detailfragen betreffend Umsetzbarkeit eines Ausgehverbots stellt sich natürlich auch noch die Frage, ob solche Verbote grundsätzlich in Ordnung sind. Klar, es geht hier um Ortspolizeireglemente, was dem Ganzen eine gewisse Legitimität zu verleihen scheint.

Trotzdem: Normalerweise hören wir von Ausgehverboten (häufiger Ausgangssperren genannt) von Ländern, in denen es «kriselt» und in denen man mit einem Ausgehverbot versucht, die Lage ruhig zu behalten. Von einer derartigen Ausnahmesituation kann aber hier nicht die Rede sein.

Die Bundesverfassung (Art. 10, Abs. 2) meint zu dieser Frage Folgendes:

Jeder Mensch hat das Recht auf persönliche Freiheit, insbesondere auf körperliche und geistige Unversehrtheit und auf Bewegungsfreiheit.

Unter dem Ausdruck «jeder Mensch» gehören auch Jugendliche – egal wie alt sie sind. Mit den oben erwähnten Ausgehverboten wird aber genau jene Bewegungsfreiheit eingeschränkt, welche die Bundesverfassung garantieren soll…

Dem Absatz oben könnte man den nächsten Absatz in der Bundesverfassung entgegenhalten (Art. 11, Abs. 1):

Kinder und Jugendliche haben Anspruch auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit und auf Förderung ihrer Entwicklung.

Man könnte also argumentieren, dass ein Ausgehverbot dem «Schutz ihrer Unversehrtheit» oder der «Förderung ihrer Entwicklung» diene. Nur: Der nächste Absatz des gleichen Artikels lautet (Art. 11, Abs. 2):

Sie (Anm.: die Kinder und Jugendlichen) üben ihre Rechte im Rahmen ihrer Urteilsfähigkeit aus.

Von einem beispielsweise 15-Jährigen kann man schon eine gewisse Urteilsfähigkeit voraussetzen. Er wüsste, dass er nicht zu spät nach Hause kommen sollte, doch er will dies nicht.

Freiheitsentzug ja, aber…

Schliesslich befindet er sich auch in einer Phase des Loslösens von zu Hause beziehungsweise des Erkundens neuer Freiheiten. Es ist jene Bewegungsfreiheit, welche ihm bisher verwehrt blieb, weil er noch zu jung und nicht urteilsfähig war.

Auch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) sieht in diesem Fall einen «Freiheitsentzug» vor (Art. 5, Abs. 1):

Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:
(…)
d) rechtmässiger Freiheitsentzug bei Minderjährigen zum Zweck überwachter Erziehung (…)

Sowohl die EMRK wie auch die Bundesverfassung äussern sich nicht zum Thema Erziehung oder zur Rolle der Eltern. Sie garantieren lediglich das Recht, eine Familie haben zu dürfen.

Das heisst, Erziehung ist reine Privatsache. Da es kaum einen anderen plausiblen Grund gibt, ist das fragliche Ausgehverbot für Jugendliche somit eine reine erzieherische Massnahme. Das hört man auch in der Argumentation: Die Eltern würden heutzutage ihre «Erziehungs- und Aufsichtspflicht» nicht (mehr) wahrnehmen.

Das mag zwar im Einzelfall so sein. Und dennoch: Mit diesem Verbot schlägt man den Sack (die Kinder) und meint den Esel (die Eltern). Dies wiegt umso schwerer, als dass – wie bereits erwähnt – die Kinder in dem Alter daran sind, in welchem sie ihre Bewegungsfreiheit (und ihre Grenzen) erstmals richtig erkunden wollen. Doch kaum sind die jungen Spatzen flügge geworden, bauen Dritte einen Käfig auf…

Wenn Eingriffe, dann am richtigen Ort

Damit greift die öffentliche Hand (erstmals?) in die bis anhin private Erziehung ein, und zwar nicht im Einzelfall, sondern pauschal. Es müssen in Zukunft darum auch jene Eltern entsprechende Vorkehrungen treffen (begleiten, abholen, elterliche Vollmachten für die begleitenden Bekannten ausstellen usw.), deren Kinder bisher nie Anlass zur Klage gegeben haben. Und das dürfte noch immer die grosse Mehrheit der Jugendlichen sein.

Zugleich nimmt die öffentliche Hand mit diesem Verbot die Eltern aus der Verantwortung: Nicht mehr sie bestimmen und sorgen dafür, bis wann ihrer Kinder zu Hause sein müssen, sondern die öffentliche Hand.

Ob dieser Eingriff geschickt ist, darüber lässt sich lange diskutieren. Wenn aber die öffentliche Hand hier schon eingreift, dann sollte sie wenigstens bei den Eltern ansetzen und nicht bei den Jugendlichen selbst.

Häufig liegt das Problem nämlich nicht am Willen der Eltern, sondern an deren Unvermögen, sich die nötige Autorität gegenüber ihren Kindern zu verschaffen. Das betrifft vielfach auch nicht nur die Frage, wann die eigenen Kinder zu Hause sein sollten.

Indem die öffentliche Hand nun quasi das erzieherische Heft in die Hand nimmt, untergräbt sie die Autorität der Eltern (oder die Bemühungen dazu) erst recht. Trägt dann die öffentliche Hand auch die Konsequenzen daraus?
 

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9 Antworten auf „Ausgehverbote als Erziehungsmassnahme für wen?“

  1. Dazu passt ein Artikel im Magazin des Tages Anzeigers über Jugendliche aus Zürich, die fast überall, wo sie sich (auch tagsüber, also ganz „legal“) aufhalten, kontrolliert und weggeschickt werden. Ähnliches oder Gleiches lässt sich auch anderswo beobachten. Sehen sie dann noch ein wenig anders aus als der (stomlinienförmige) Rest, haben sie sowieso verloren. Und dann kommt noch die FDP mit einem Plakat, auf dem sie mehr Leistung in den Schulen fordert, aus Liebe zur Schweiz. Darum geht es doch bei uns: zu leisten und sich anzupassen, nicht aufzufallen und schon mit 7 ein kleiner Erwachsener zu sein, sich einzufügen in dieses System, in dem die „richtige“ Schule, der „richtige“ Beruf und das „richtige“ Verhalten alles sind. Das geht so weit, dass mir ansonsten sehr aufgeweckte Mädchen im Unterricht sagen: „Ich würde mich ja anders anziehen und andere Dinge tun, aber das darf man nicht / tut man nicht / würde mich zur Aussenseiterin machen.“ Aber eben, die letzten, die in der Schweiz so was wie eine Lobby haben, sind die Jugendlichen.

  2. Politiker und Eltern die solche Ausgangssperren umsetzen und unterstützen, sollte man die Lizenz zum Erziehen entziehen. Abgabe des Nachwuchses an der Babyklappe bis spätestens 19 Uhr.

  3. @Ugugu: Es gibt eine ganze Horde von PolitikerInnen, die sich auf Kosten von Jugendlichen profilieren. Mit einem energischen (und für alle ausser die Jugendlichen schmerzlosen) NEIN zu Killerspielen, mit birnenweichen (und für alle ausser die Jugendlichen schmerzlosen) Ausgangssperren, usw. Gleichzeitg wird damit auch definiert, wer ein „guter Jugendlicher“ und wer ein „schlechter Jugendlicher“ ist. Gut ist, wer angepasst ist. Schlecht ist, wer auffällt (zum Beispiel indem er oder sie zu spät noch draussen „herumlungert“). Ganz schlecht ist, wer nicht ins Schema passt.

    Zu den Eltern: Die stehen unter Druck. Wem es nicht schlicht und einfach egal ist, was „die Leute“ von ihm halten (und leider, leider ist es vielen überhaupt nicht egal), möchte, dass seine Kinder weder auffallen noch anecken. Die gesellschaftlichen Zwänge in der Schweiz sind riesig. Sie (laut) zu hinterfragen oder sich ihnen gar entgegenzustellen, ist für viele Leute sehr schwierig, für einige unmöglich. Also reiht man sich ein in die Masse. Begehrt nicht auf, wenn Politiker mal wieder denken, sie müssen sich auf Kosten einer Gruppe profilieren.

  4. jaja…. aus jedem Kind wird mal Eltern, wenn sie genügend blöd geworden sind.

    Das ist etwas übertrieben, denn die meisten Kinder kommen ja dann schon noch ordentlich heraus.

    Die Grundrechte sind natürlich auch für Kinder, es gibt aber auch die Aufsichtspflicht der Eltern. Ich glaube nicht, dass jemand sein 5 jähriges Kind auf die Strasse springen lässt, nur weil es ein Recht hat, selber dorthin zu laufen, wo es will.

  5. @ Raffnix
    Das 5-jährige Kind darf schon auf die Strasse springen, nur hätte auch es sich dabei an die Strassenverkehrsordnung zu halten (Vortrittsrechte usw.). Und weil es diese noch nicht kennt und versteht, haben die Eltern für deren Einhaltung zu sorgen.

    Das heisst dann konkret, das Kind zurückzuhalten und es damit in seiner Bewegungsfreiheit einzuschränken. Das geht dann eben in Richtung des zitierte „rechtmässigen Freiheitsentzug bei Minderjährigen zum Zweck überwachter Erziehung“. Dagegen legt wohl auch niemand Einspruch ein.

    Ich sehe allerdings nicht ein, weshalb die öffentliche Hand die Bewegungsfreiheit beispielsweise aller unter 16-Jährigen einschränken soll. Gut möglich, dass sich einer im öffentlichen Raum auch einmal „falsch“ benimmt, indem er sich z. B. zu laut verhält. Dann kann man ihn ja zurechtweisen, sodass er es lernt und muss deswegen nicht gleich alle unter 16-Jährigen zu Hause einsperren…

  6. dazu gibts nichts mehr zu sagen.
    Das Einsperrgesetz wird ja wohl auch Fanthasie bleiben.

  7. @ Raffnix
    Da muss ich Dich enttäuschen von wegen „bleibt eine Fantasie“: In Lyss beispielsweise soll keine Partei (auch nicht die bitte-keine-weiteren-Vorschriften-aus-Liebe-zur-Schweiz-Partei) sich gegen die fragliche (aber schon vorher bestehende) Ausgehregel gewehrt haben. Und in Biel, wo die Vernehmlassung ebenfalls offiziell abgeschlossen wurde, hat noch kein lokales Medium nach den Reaktionen zu dieser Ausgehregel nachgefragt.

  8. interessiert anscheinend niemanden, und zwar zu Recht. Müsste ja dann auch kontrolliert werden, und das kostet ja wieder.

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