Die Grenzen der direkten Demokratie

Herr und Frau Schweizer sind stolz auf ihre direkte Demokratie. Mitbestimmen liegt im Trend, weshalb die deutschen Nachbarn auch häufig neidisch auf die Schweiz schielen. In wirtschaftlichen Fragen jedoch endet die Mitbestimmung.

Die Schweizer sind das glücklichste Volk der Welt. Ehrlich! Die leben nicht nur die direkte Demokratie, sondern sie haben sogar ein Patent darauf (das allerdings so teuer ist, dass es sich kaum jemand leisten kann). Das Schweizer Volk bestimmt aktiv mit. Und wer aktiv mitbestimmen kann statt sich herum diktieren zu lassen, der muss zwangsläufig glücklich sein.

In Wirtschaftsfragen: Retten, aber nicht mitbestimmen

So hatten die Eidgenossen beispielsweise im 2007 mit überwältigendem Mehr «Ja» gesagt zur Banken- und Finanzkrise. Nur kurze Zeit später befürwortete eine Mehrheit der Schweizer Bevölkerung ebenfalls, dass die grösste Schweizer Bank gerettet werden soll, welche zuvor andere an die Wand gefahren hatten.

Und erst letzthin begrüsste das Volk an der Urne, dass es absolut in Ordnung sei, wenn die gleiche Bank ein paar Tausend Leute auf die Strasse stellt, damit nur kurze Zeit später ein einziger Londoner Banker dieser Bank die durch die Entlassungen beabsichtigten Einsparungen wieder verzocken kann…

Ja, die Schweizer Bevölkerung ist wahrlich ein glückliches Volk ob so viel Mitbestimmung. Doch nicht nur das: Herr und Frau Schweizer sind auch äusserst gnädig. Sie rufen nicht nach Sühne und klagen dementsprechend niemanden an, mögen noch so viele Milliarden oder Stellen vaporisiert worden und möge noch so sehr das heutige System in Gefahr gewesen sein.

Sie dürften es bemerkt haben: Zu gar nichts konnte die Schweizer Bevölkerung mitbestimmen oder wenigstens mitreden, so stolz dieses kauzige Bergvolk auch immer auf ihr demokratisches Modell ist. Vielmehr gilt: Es ist einfach so, dass es wirtschaftliche Krisen gibt, dass Banken an die Wand gefahren werden und dass «systemrelevante» Elemente nötigenfalls vom Staat gerettet werden müssen, nicht wahr?

Soll denn die Bevölkerung oder sollen wenigstens die von ihr bestimmten Politiker in wirtschaftlichen Fragen mitreden und mitbestimmen dürfen?

Ist es nicht erstaunlich, dass das nachfolgende Zitat des noch vor dem Zweiten Weltkrieg verstorbenen Kurt Tucholsky europaweit kaum aktueller sein könnte?

Der Gewinn, der bleibt privat, die Verluste kauft der Staat.

Der Staat, das sind wir alle. Wir alle hatten in den vergangenen Jahren für viele von der Privatwirtschaft verursachten Verluste aufkommen oder noch grössere Folgen abwenden müssen. Ist es da nicht legitim, mitreden und mitbestimmen zu wollen?

Andererseits: Wäre es nicht vielleicht besser, sich ganz aus den Abläufen des heutigen Wirtschaftssystems herauszuhalten? Haben Sie sich auch schon einmal die Frage gestellt, wie die Schweiz und ihre Wirtschaft heute aussehen würden, wäre die UBS nicht gerettet worden?

Neubau rechtzeitig planen

Gewiss: Das gesamte heutige System wäre vermutlich zusammengebrochen und hätte viele Unternehmen und Private materiell in die Tiefe gerissen. Dies hätte zweifellos zu teilweise schmerzlichen Erfahrungen geführt und es wäre wegen den Verlusten wohl auch zu sozialen Unruhen gekommen.

Doch haben die UBS, die Grossbanken allgemein und die Politiker wirklich etwas gelernt? Hat sich tatsächlich etwas verändert? Wurden beispielsweise die im Ausland grossmundig angekündeten Boni-Beschränkungen, welche falsche Anreize liefern würden, je eingeführt?

Das sind rhetorische Fragen, denn wir kennen alle die Antworten.

Was getan wurde und noch immer getan wird, wirkt wie ein Flickwerk an einem System, das sich zwar kurzfristig noch einmal reparieren liess und lässt, das aber langfristig kaum eine Perspektive bietet. Zu einem Gesinnungswandel weg von der weltweiten Casino- und Abzocker-Mentalität hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit haben diese Bemühungen bisher kaum geführt – weil das auch gar nie im Zentrum stand.

Wenn ein Haus so marode ist, dass es einzustürzen droht, kann man kurzfristig versuchen, den kompletten Einsturz mit Stützen zu verhindern. Hausmeisterin Merkel und Hausmeister Sarkozy haben dafür bereits die Ärmel hochgekrempelt.

Gegen exzessives Verhalten einiger Hausbewohner unternimmt jedoch kaum jemand etwas. Die Stützen verhindern zwar kurzfristig Schlimmeres. Doch ständig herabstürzende Teile von Decken und Wänden machen das Bewohnen für viele schier unmöglich.

Ohnehin vermögen Stützen alleine den desolaten Zustand eines Hauses nicht zu verbessern. Kurzfristig mag deren Einsatz richtig sein. Längerfristig wäre es aber wohl sinnvoll, einen geordneten Abbruch und Neubau zu planen – bevor es zu einem kompletten Einsturz kommt. Das hinterlässt insgesamt weniger Schäden. Darum: OccupyYourBrain!

10 Antworten auf „Die Grenzen der direkten Demokratie“

  1. Natürlich könnte jemand eine Volksinitiative einreichen, die endlich die vermaledeite Too-Big-To-Fail-Problematik löst. Vermutlich muss es sogar so sein, denn es sieht nicht so aus, als würden die Politiker das Problem lösen. Warum das Problem nicht angepackt ist, bleibt mir ein Rätsel. Die Gefahren für alle Beteiligten sind einfach viel zu gross, um es zu ignorieren.

    Die Mitbestimmung in wirtschaftlichen Fragen endet nicht. Die Stimmbürger können allerdings nur jene Bereiche gestalten, die gesetzlich zu regulieren sind. Dagegen, dass sich der Markt so oder so verhält, kann man nichts tun. Das Wetter ist ja auch einfach, wie es ist.

  2. @ Ronnie Grob
    Die oben angesprochene „Casino- und Abzocker-Mentalität“ ist nicht nur ein UBS-internes, sondern ein weltweites Problem. Darin erklären sich auch die weltweiten Occupy- bzw. 99 %-Proteste. Die Hausaufgaben hätten somit nicht nur wir zu machen, sondern alle Herren Länder.

    Vor allem aber schrecken Finanzjongleure weltweit auch vor Spekulationen mit Währungen (z. B. gegen den Franken bzw. die SNB) oder Nahrungsmittel nicht zurück. Dagegen lässt sich kaum auf nationaler Ebene etwas machen. Zudem ist eine Mitbestimmung durch die Bevölkerung kaum denkbar, weil es auch schon beim heutigen System äusserst schwierig ist, international etwas regulieren zu wollen. Insgesamt betrachtet ist das Ganze wahrlich keine Freude…

  3. OccupyYourBrain! finde ich spitze. Doch was machen all die vielen Menschen, die keines haben?

    Die undemokratischste Gewalt in der Confoederatio Helvetica ist die Monetative, unsere allseits geliebte und hoch geachtete SNB. Sie nimmt uns die Last, über bald Hunderte von Milliarden Franken zu entscheiden, für die wir dann alle gemeinsam gerade stehen dürfen. Und kaum ein Journalist wagt es auch nur ansatzweise, die Unfähigkeit Nationalbank AG und ihres Managements an den Pranger zu stellen oder gar das System als Grundlage des Übels den Bürgern verständlich näher zu bringen.

    Deine Forderung nach einem Neubau predige ich schon seit längerer Zeit. Viele Kollegen nicken zustimmend, um alles sogleich wieder zu vergessen und zur Tagesordnung überzugehen. Der Leidensdruck scheint noch viel zu klein zu sein.

    Neulich hatte ich eine längere Diskussion im Forum der Augsbruger Allgemeine zu diesem Thema und musste mich auch mit allerlei Ignoranz (vor allem mit einem Herrn namens Leopold) herumschlagen. Die dort geführte Diskussion scheint mir symptomatisch für das Problem zu sein.

  4. @LD

    Man kann nicht gegen eines sein, und keine Alternative nennen.

    Die SNB hätte die Alternative gehabt, ohne Eingreifen die gesamte Exportwirtschaft hops gehen zu lassen. Und mit ihr die Arbeitsplätze, die direkt und indirekt daran hängen.

    Warum nicht weltweit die Spekulation mit Währungen, Lebensmitteln und Rohstoffen verboten wird, weiss ich allerdings noch nicht so genau.

  5. @ LD
    Auch wenn die Teilnehmerzahl bei OccupyParadeplatz relativ gering war, so ist mein Eindruck, dass viele andere in den warmen Stuben dem Protest der „Empörten“ zustimmen. Allerdings stimme ich Dir zu, dass zumindest hierzulande der Leidensdruck noch relativ gering ist oder – die, die es betrifft, noch nicht gemerkt haben, dass sie auf die Strasse gehen sollten. All jene, welche nun beispielsweise zwei Stunden mehr pro Woche arbeiten müssen (für den gleichen Lohn), tun dies nicht nur, aber auch wegen der gesamten Problematik (Spekulationen gegen Griechenland und den Euro).

    Auf der anderen Seite ist da zugleich eine gewisse Hilflosigkeit darüber, was man machen könnte bzw. was wirklich etwas bringt, so ganz nach dem resignierenden Motto: „Es ändert sich ja sowieso nie etwas“. Ich hoffe da immer noch aufs Prinzip „Steter Tropfen höhlt den Stein“. Aber vielleicht bleibt nicht genügend Zeit dafür…

    Ein Gehirn hätten schon alle. Aber nicht jeder setzen es auch ein… Das könnte zum Beispiel dazu genutzt werden, eine Bank genau zu durchleuchten, bevor man seine Batzen dort parkiert.

  6. @Raffnix: Durch unsere enge wirtschaftliche Verbandelung mit dem Euroraum sind wir zwangsläufig an ein gemeinsames Schicksal gebunden. Wenn die SNB jetzt nicht so reagiert hätte, hätten die exportorientierten CH-Unternehmen und der Inlandtourismus gelitten. Die SNB hat den Teufel mit dem Belzebub ausgetrieben. Wir haben das Problem nur vertagt und umso heftiger wird es uns einholen. Das Ganze ist ein Poker um den längeren Atem. Erwischen wird’s uns trotzdem alle. Allerdings kann ich das Pseudoargument der „Alternativlosigkeit“ nun wirklich nicht mehr hören (vor allem, seit Frau Merkel es in jeder ihrer Reden verwendet) und plädiere dafür, es zum Unwort des Jahres zu erklären! Der Spekulation mit jeglicher Art von Wirtschaftsgütern sollte ganz ein Riegel vorgeschoben werden. Da sind wir ganz kongruent.

    @Titus: ganz meine Wahrnehmung 🙂

  7. @LD
    Ob das Problem vertagt wurde, ist nicht so eindeutig, aber wahrscheinlich.

    Immerhin wird verucht, dass der Absturz nicht panikartig, sondern gestaffelt verläuft.
    Das ist sehr wichtig, denn eine allfällige Kettenreaktion ist kaum beherrschbar.

    Lustig ist im jetzigen Wahlkampf von der FDP zu hören, dass es wichtig ist, FDP zu wählen, weil wirtschaftliche Probleme vor uns stünden! Dass die Versage der FDP abstammen, habe ich noch nicht aus deren Munde gehört!

  8. „Gestaffelter Absturz“?! Hast Du schon mal jemanden „gestaffelt“ auf einem Flugzeug stürzen sehen? :-)=) Dass der Crash kommt, ist keine Sache des Glaubens sondern der Mathematik. Jedes Schneeballsystem ist zum Kollaps verdammt.

    Ja, die FDP hat sich am allerwenigsten als Problemlöser erwiesen. Doch eigentlich ist mir auch sonst keine Partei bekannt, die irgendwelche Probleme _gelöst_ hätte. Wir haben nur Problemumlagerer und -vertager. Eine Lösung ist etwas ganz anderes.

  9. Hast Du schon mal jemanden “gestaffelt” auf einem Flugzeug stürzen sehen?

    Oh …. ein guter Vergleich…. könnte von der SVP sein … 🙂

    Ob der Crash kommt, ist ja nicht die Frage, sondern wann und wie intensiv. Es wäre auch nicht zum ersten mal.

  10. Nicht gestaffelt aus dem Flugzeug fallen aber gestaffelt von einem Berg fallen geht schon und ist gesünder als ungebremst in die Tiefe zu fallen.

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