Der heutige 10. Dezember gilt als Tag der Menschenrechte. Betrachtet man die Schweizer Medienlandschaft, mutiert er eher zum Tag des Vergessens…
Eine geschlagene Stunde lang habe ich heute morgen gegoogelt. Die dabei verwendeten Stichworte sind: «Menschenrecht», «Menschenrechte (Schweiz)», «Tag der Menschenrechte (2011)». Zugleich habe ich die Suche auf die Schweiz und die letzten 24 Stunden eingeschränkt.
Bundesratswahlen vor Menschenrechte
Das Resultat ist ernüchternd (Abfragezeitpunkt: 10.12.2011, 10.00 h):
«Menschenrecht»: | 57 Ergebnisse |
«Menschenrechte»: | 951 Ergebnisse |
«Menschenrechte Schweiz»: | 881 Ergebnisse |
«Tag der Menschenrechte» | 362 Ergebnisse |
«Tag der Menschenrechte 2011»: | 324 Ergebnisse |
Es sind kleinere Websites, häufig sogar solche mit einem religiösen Anstrich, welche es bislang unter die Top Ten von Google geschafft haben. Einzige Ausnahme bildet dieser «Blick»-Artikel über Festnahmen in China am heutigen Tag der Menschenrechte. Hätte es diese Demonstrationen vor der UNO-Vertretung in Peking nicht gegeben, hätte wohl auch das Schweizer Boulevard-Blatt nichts über den heutigen Tag (online) zu berichten gewusst.
Auch die direkte Suche bei den grossen Medien-Websites wie Tages-Anzeiger, NZZ oder SF Tagesschau zeigt: Die Menschenrechte sind heute, am Tag der Menschenrechte, kein Thema.
Aber – wer bei Google in den letzten 24 Stunden Schweizer Websites mit den folgenden Stichworten suchte, erhielt diese Ergebnisse:
«Bundesratswahlen»: | 18’100 Ergebnisse |
«Bundesratswahlen 2011»: | 19’200 Ergebnisse |
Musterschüler Schweiz?
Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte beginnt mit den folgenden Worten:
Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.
Wenn Massenmedien in unseren Breitengraden, auch staatlich finanzierte, am Tag der Menschenrechte nicht über Menschenrechtsverletzungen berichten, dann ist das ein Schlag ins Gesicht der Betroffenen und damit auch ein Schlag gegen deren Würde und Rechte.
Denn: Menschenrechte sind nicht nur bloss Rechte. Sie blieben nur fromme Worte, wenn sich niemand an sie hält. Wer «Ja» sagt zu den Menschenrechten, geht auch die Pflicht ein, sie einzuhalten.
«Jeder für sich» funktioniert dabei nicht. Darum geht jeder, der die Menschenrechte bejaht, auch die Pflicht ein, sich im Rahmen seiner Möglichkeiten für die Einhaltung der Menschenrechte einzusetzen.
Die Möglichkeiten der Medien, sich für deren Einhaltung einzusetzen, liegen in der Berichterstattung. Das muss nicht missionarisch geschehen und es müssen auch nicht zwingend Themen sein, die nur das Ausland betreffen.
So bilden zwar die Frauen im Bundesrat zurzeit die Mehrheit. Von Lohngleichheit zwischen den Geschlechtern kann hierzulande aber trotzdem nicht gesprochen werden und dies obschon der zweite Punkt von Artikel 23 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte genau das verlangt:
Jeder, ohne Unterschied, hat das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit.
Hätten die Schweizer Medien in den letzten 24 Stunden mit der gleichen Penetration über die Lohnungleichheit zwischen Männern und Frauen in verschiedenen Unternehmen berichtet wie sie dies über die kommenden Bundesratswahlen getan haben, dann wäre diese Menschenrechtsverletzung vielleicht bald vom Tisch.
Gewiss: Es ist nicht Aufgabe der Schweizer Medien, konzertiert die Moralkeule zu einem bestimmten Thema schwingen. Dennoch dürfte Lohngleichheit längerfristig wohl mehr Menschen hierzulande interessieren als die unsäglichen Auflistungen von möglichen Wahlszenarien, die am Tag nach den Wahlen ohnehin niemanden mehr interessieren.
Dauerhafte Aufgabe
Das Thema der Lohn(un)gleichheit ist aber nur eines von vielen verschiedenen möglichen Themen. So mag beispielsweise zwar jeder hierzulande seine Meinung frei äussern. Ohne Folgen bleibt das aber bei Weitem nicht immer.
Viele sitzen lieber auf den Mund, weil sie mögliche Repressionen befürchten. Das kann im Kleinen geschehen wie ein Mitarbeiter, der nicht wagt, eine «nicht ganz saubere Aktion» seines Arbeitgebers dem Vorgesetzten oder einer neutralen Stelle zu melden.
Es kann auch im Grossen geschehen, indem zum Beispiel kaum ein Politiker, ein öffentlich bekannter «Experte» oder ein «Promi» irgendein Medium direkt kritisiert. Zu gross ist die Abhängigkeit und zu gross ist die Furcht, in Zukunft von einer Redaktion nicht mehr berücksichtigt zu werden.
Es gäbe somit durchaus auch für die Schweiz Themen, welche im Widerspruch zu den Menschenrechten stehen, über die man am Tag der Menschenrechte berichten könnte und – die über so manche Banalität zu den Bundesratswahlen stehen.
In der Schweiz sind zwar die Menschenrechte sinngemäss Gesetz. Deren Einhaltung einzufordern ist aber selbst in der vermeintlich «gerechten» Schweiz eine dauerhafte Aufgabe von uns allen.
Das gilt sowohl fürs eigene Land wie auch fürs Ausland, aus welchem die Schweiz Güter bezieht obschon es in vielen dieser Ländern mit der Menschenrechtssituation häufig noch schlechter bestellt ist als fürs eigene Land. Aber wen interessiert das schon?
Etwas tun
- Menschenrechte wahrnehmen
- Über die Menschenrechte (auch im Alltag) reden, schreiben, bloggen, …
- Beim Briefmarathon von Amnesty International (Schweiz) teilnehmen
Du hast sehr Recht – nur ein Minimaleinwand: Vielleicht hat das Beanspruchen von Tagen für bestimmte Anliegen dazu geführt, dass diese Tage kaum mehr als „Moralmarketing“ taugen.
Gut, diesen Beitrag hier zu finden und Danke fürs Thematisieren!
Hausfrau Hanna
@ Hausfrau Hanna
Gern geschehen.
@ Philippe Wampfler
Es gibt in der Tat sehr viele solcher Tage, nach meinem „Geschmack“ sogar zu viele Welttage. Wohl auch wegen der inflationären Definition dieser Tage dürften vermutlich viele noch nie vom Welttag des Lehrers (5. Oktober), der Poesie (21. März) oder des Fernsehens (21. November) usw. gehört haben.
Tage, die allerdings wichtige Grundlagen fürs (Zusammen-)Leben tangieren, dürften schon Erwähnung in den Medien finden. Dabei nehmen nach meiner Auffassung die Menschenrechte eine besondere Stellung ein, stehen sie doch praktisch über allem.
Ungeachtet dessen: Wenn man regelmässig und seiten- oder minutenweise über Lifestyle-Problemchen berichten kann und wenn man Ressourcen für substanzlose Bundesratswahl-Berichte hat (Was sind eigentlich die bisherigen Verdienste von Hansjörg Walter? Lässt sich dieser Mann auch noch mit mehr als bloss mit drei Adjektiven beschreiben?), dann läge ja wohl schon eine halbe Seite oder ein zweiminütiger Bericht zum Thema Menschenrechte drin, oder?