«Die grösste Minderheit»

Sprachlich wandelt sich die «wählerstärkste Partei» gerade zur «grössten Minderheit». Das ist clever, denn damit wird der Akzent nicht mehr auf die (Wähler-) «Stärke» gelegt, sondern auf die Minderheit. Und Minderheiten verdienen unsere besondere Aufmerksamkeit, nicht wahr? Schaut man hingegen etwas genauer hin, dann gibt es noch ganz andere «grösste Minderheiten»…

Jetzt haben wir den (voraussehbaren) Salat: Bis zu den nächsten Erneuerungswahlen des Bundesrats oder bis vielleicht schon vorher ein FDP- oder der BDP-Bundesratssitz frei wird, werden wir uns von der rechtsbürgerlichen Seite anhören müssen, dass «die grösste Minderheit» im Bundesrat untervertreten sei.

Drei neue Platten

Diese neue Platte wird abwechslungsweise mit zwei anderen abgespielt. Die eine ist die der «Konkordanz-Brecher». Wer sie abspielt, hat noch immer nicht verstanden, dass Konkordanz mehr bedeutet als eine arithmetische Verteilung der Bundesratssitze.

Der Wille zur Zusammenarbeit innerhalb des Bundesrats und innerhalb des Parlaments gehören ebenso dazu wie die Bereitschaft, die ideologischen Scheuklappen vor allem im Bundesrat, aber auch im Parlament ablegen zu können.

Und noch etwas braucht es für die Konkordanz: Einen frei werdenden Bundesratssitz von jener Partei, die darauf keinen Anspruch mehr hat, sodass dieser von einer anderen Partei belegt werden kann, die neuerdings darauf Anspruch hat.

Die SVP schreibt in diesen Tagen auf ihrer Website zu den jüngsten Bundesratswahlen: «Es wurde eine Chance verpasst, langfristige politische Stabilität zu schaffen.»

Tatsächlich hatte «die wählerstärkste Partei» diese Chance selber verpasst. Statt nach den Wahlen im 2003 geduldig auf den Rücktritt eines CVP-Bundesrats zu warten – so wie es die Tradition will, und Traditionen werden bei der SVP doch ansonsten hoch gehalten – stieg sie in eine Kampfwahl und wählte wohl zusammen mit der FDP die damals noch amtierende Bundesrätin Ruth Metzler ab.

Dadurch schuf sie selber eine langfristig instabile politische Situation. Dabei hätte sie nur zweieinhalb Jahre auf den Rücktritt von Joseph Deiss warten müssen, und niemand hätte ihr dann diesen zweiten Sitz streitig machen können. Selbst die CVP hätte wohl Mühe gehabt, ihren damals noch zweiten Sitz rechtfertigen zu können. Nun denn: Es kam bekanntlich anders, und der Rest ist Geschichte.

Die andere Platte, welche wir in nächster Zeit wiederholt vorgespielt zu hören bekommen, ist die der vermeintlichen «Mitte-links-Regierung». Vorab: «Mitte-links» oder «Mitte-rechts» sind Ausdrücke, welche wir vor allem vom Ausland her kennen.

Sie drücken aus, dass sich eine Regierung nur aus Mitgliedern der politischen Mitte und der politischen Rechten oder Linken zusammensetzt. Wer heute von «Mitte-links» spricht, macht aus dem SVP-Bundesrat Ueli Maurer nicht nur bloss einen halben Bundesrat, so wie es SVP-Bundesräten gelegentlich widerfahren kann, sondern er macht aus ihm einen «Null-Bundesrat». Er zählt nämlich offensichtlich überhaupt nicht.

Eine Sehschwäche, Ignoranz, Dummheit oder rhetorisches Ungeschick können die Gründe dafür sein, den ehemaligen SVP-Parteipräsidenten nicht wahrnehmen zu wollen. Vielleicht ist es auch eine Mischung von all dem zusammen.

Untervertretung einer andere «grössten Minderheit»

Sicher ist hingegen: Wer zählen kann, kommt auf sieben Bundesräte, wovon zwei zur politischen Linken gehören. Rechts von ihnen stehen fünf Bundesräte. Die Position «rechts von ihnen» ist nicht unbedeutend, denn das ergibt eine «Mitte-rechts-Regierung» – natürlich aus linker Sicht betrachtet.

Geht es beispielsweise um die Beschaffung neuer Militärflugzeuge, dann kommt diese «Links-Position» zum Tragen, denn dann haben wir wohl eher eine «Mitte-rechts-Regierung». Geht es hingegen um den Atomausstieg, dann trifft eher «Mitte-links» zu. Ganz so einfach ist es also nicht, wie sich das einige wünschen, die zur Vereinfachung tendieren.

Zählen zu können ist aber ohnehin nicht die Stärke der politischen Rechten. Sich selber als «grösste Minderheit» zu bezeichnen, ist nämlich eine Frage der Auslegung einer einfachen Rechnung. Gehen wir dazu einmal die Wähleranteile (gemäss Nationalrat!) nach den jüngsten Wahlen durch:

SVP = 26,6 Prozent
SP = 18,7 Prozent
FDP = 15,1 Prozent
CVP = 12,3 Prozent

Nehmen wir an, die SVP hätte zwei Bundesratssitze, sodass der Wähleranteil der SVP ganz gezählt werden kann. In dem Falle ergäben alle oben aufgeführten Wähleranteile zusammen ein Total von 72,7 Prozent.

Oder umgekehrt: 27,3 Prozent aller Wählenden sind – nach Sprachgebrauch der politischen Rechten – «nicht im Bundesrat vertreten». Das ist der grösste Anteil von allen!

Dieser Anteil war aber nicht immer so hoch. 1959, als die ursprüngliche Bundesrats-«Zauberformel» entstand, sahen die Wähleranteile wie folgt aus:

FDP = 24 Prozent
CVP = 23 Prozent
SP = 26 Prozent
BGB (SVP) = 12 Prozent

Zusammen ergibt das einen Wähleranteil von 85 Prozent, womit «nur» 15 Prozent «nicht im Bundesrat vertreten» waren.

Die Grösse der Minderheit tut hier nichts zu Sache, denn das ändert nichts daran, dass diese Minderheit dennoch nicht im Bundesrat vertreten ist. Tatsache ist, dass heute mehr denn je nicht im Bundesrat vertreten sind und diese durch ihr «Schicksal» die grösste Minderheit bilden – und nicht etwa die SVP-Wählenden.

Dies gilt zumindest so lange, wie man die parteipolitische Zusammensetzung des Bundesrats vom Wähleranteil im Nationalrat ableitet. Ob das richtig ist und welche Rolle dabei die parteipolitische Zusammensetzung im Ständerat spielt, ist eine andere, ebenfalls interessante Frage.

Noch mehr Minderheiten

Doch auch diese «Minderheiten-Sicht» ist nur eine mögliche «Wahrheit». Am vergangenen Sonntag meldete sich etwa der Waadtländer und ehemalige Bundesratskandidat Pascal Broulis zu Wort. Es sei problematisch, wenn die Genfersee-Region mit 1,2 Millionen Einwohnern nicht mehr im Bundesrat vertreten sei.

Ins gleiche Horn bliess auch der Freiburger Nationalrat Dominique de Buman. Der Bundesrat repräsentiere die Schweiz nicht mehr richtig, meinte dieser ebenfalls in der Sonntagspresse.

Die Genfersee Region als Minderheit? Das kann man so sehen, auch wenn die Kantone Genf und Waadt nebst dem gleichen See wenig Gemeinsames haben. Genauso gut kann man sich aber auch sonst eine x-beliebige Minderheit herauspicken und von einer Untervertretung im Bundesrat sprechen. Das kann zum Beispiel das Tessin sein. Oder der Kanton Basel-Stadt. Oder die Zentralschweiz. Oder die Bodensee-Region. Oder…

Übrigens, es gibt noch eine «grösste Minderheit», welche im Bundesrat nicht vertreten ist. 22,4 Prozent der Bevölkerung gehören dazu, oder knapp 1,8 Millionen Personen. Und sie haben alle keinen Schweizer Pass und darum nicht einmal das Recht, sich an der Wahl des Wahlgremiums von Bundesräten zu beteiligen…

Die Schweiz ist ein Land voller Minderheiten, weshalb der so genannte «Minderheitenschutz» lange Zeit eine hohe Bedeutung hatte. Gemeint ist damit, soweit wie möglich ebenfalls die Anliegen von Minderheiten anzuhören und zu berücksichtigen.

Auch das ist ein nicht zu unterschätzender Faktor in Sachen politischer Stabilität. Wenn also wieder einmal die Platte der «grössten Minderheit» gespielt wird, dann denken Sie daran: Es gibt je nach Auslegung eine ganze Reihe von «grössten Minderheiten».

Sie sollen auf keinen Fall ignoriert werden, denn irgendwie finden wir uns alle in einer dieser Minderheiten wieder…