Der Ausstieg aus der Atomenergie nimmt Formen an, wenn auch nur vage und eher zahnlos. Als «Tag, der in die Geschichte eingeht» dürfte der vergangene Mittwoch wohl nicht gelten. Dafür geht es um einiges mehr als bloss um den Atomausstieg. Bemerkt haben das vermutlich nur wenige, denn trotz hoher Bedeutung schenkt dem Thema Energieversorgung kaum jemand viel Bedeutung. Ob das gut herauskommt?
Nun hat der Bundesrat also «die Katze aus dem Sack gelassen» und präsentierte am Mittwoch ein «erstes Massnahmenpaket für die Energiestrategie 2050», welches den Ausstieg aus der Atomenergie ermöglichen soll. Damit setzte er zugleich den seit vergangenem Sonntag geäusserten (und vielleicht auch bewusst provozierten) Spekulationen über die Anzahl Gaskombikraftwerke ein Ende.
(Zu) wenig Beachtung
Die Materie ist relativ komplex und geht weit über die Frage hinaus, ob und wie viele dieser CO2-Schleudern denn in Zukunft gebaut werden sollen. Viele – der Autor dieses Beitrags auch nicht ausgeschlossen – haben vermutlich noch gar nicht richtig erfasst, was da die Energieministerin Leuthard alles angesprochen hatte.
Beginnen wir darum ganz grundsätzlich mit dem, was uns in den nächsten Jahren oder Jahrzehnten an Herausforderungen erwartet. Dazu gehört etwa unser Verhältnis zum Ausland und zu Ausländern, die Überalterung der Bevölkerung, die soziale Wohlfahrt und noch einiges mehr.
Zwei Themen stechen jedoch besonders hervor: Der Klimawandel und die Energieversorgung. Diese beiden haben über alle anderen Themen übergreifenden Charakter. So können veränderte, klimatische Verhältnisse primär Einfluss auf die Landwirtschaft, den Tourismus und die Energiewirtschaft haben, sekundär aber auch auf den Alltag von uns allen (zum Beispiel im Falle einer Wasserknappheit).
Zudem wäre das Dienstleistungs- und Industriegüterland Schweiz ohne Energieversorgung nicht viel mehr als ein Land mit einer äusserst vielseitigen Landschaft, in welcher ein paar Kühe etwas Milch geben, mit der man dann gerade noch ein paar Laibe Käse produzieren könnte…
Mit anderen Worten: Insbesondere der Energieversorgung ist per se eine hohe Bedeutung zuzuschreiben. Seit dem AKW-Unfall bei Fukushima und den grundsätzlichen Entscheiden von Bundesrat und Parlament, aus der Atomenergie auszusteigen, sollte das Interesse an diesem Thema noch einmal massiv höher sein.
Gemessen an den Reaktionen der Massenmedien scheint es aber wenig Interesse geweckt zu haben. Die Anwendung der so genannten «Ventilklausel», welche lediglich für die Dauer eines Jahres gilt, weckte offenbar mehr Interesse als die Frage, wie und womit die Energieversorgung ohne AKWs für die nächsten Jahrzehnte sichergestellt sein soll.
Das Zählen von Bürgern aus dem östlichen EU-Raum ist halt eben einfacher als das Zählen von Stromrappen, reduzierten Prozenten und eingesparten Terawattstunden. Damit wären wir wieder bei der eingangs erwähnten Komplexität des Themas.
Mehr als nur ein Atomenergieausstieg
Als der Bundesrat sich vor knapp einem Jahr für den schrittweisen Ausstieg aus der Atomenergie entschied, legte er zugleich die so genannte «Energiestrategie 2050» fest. Sie beinhaltet (in Stichworten) die folgenden Punkte:
- Stromverbrauch senken
- Stromangebot verbreitern
- Stromimporte beibehalten
- Stromnetze ausbauen
- Energieforschung verstärken
- Vorbildfunktion seitens öffentlicher Hand
- Leuchtturmprojekte fördern
- Internationale Zusammenarbeit fördern
Wer diese Punkte genau anschaut, stellt schnell einmal fest, dass es hier ausschliesslich um Aspekte betreffend Elektrizität geht. Obwohl der Begriff «Energie» und damit auch der Begriff «Energiestrategie» alle Energiequellen miteinschliessen würde (also nicht nur die Elektrizität), gingen trotz hohem Anteil die anderen Energiequellen, namentlich die fossilen Brennstoffe, in dieser Strategie bisher vergessen.
Diese Feststellung ist deshalb wichtig, weil Doris Leuthard am Mittwoch zwar erneut von der «Energiestrategie 2050» sprach, dabei aber auch Massnahmen nannte, die mehr mit dem Klimaschutz, dem CO2-Ausstoss und der Reduktion der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu tun haben als mit dem Atomenergieausstieg.
Was Leuthard somit präsentierte, was nicht bloss ein Szenario bezüglich Ausstieg aus der Atomenergie, sondern es war wenigstens teilweise auch ein Szenario bezüglich Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen. Ob das jemand verstanden hat?
Man könnte dem Bundesrat nun vorwerfen, dass es sich hier nun um eine Art «Mogelpackung» handle oder dass er versuche, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Verglichen mit dem, was und wie der Bundesrat vor knapp einem Jahr kommunizierte – siehe die aufgelisteten Punkte oben zur «Energiestrategie 2050» – ist dieser Vorwurf sachlich betrachtet sicher richtig.
Man könnte diesen «Gesinnungswandel» aber auch als späte Einsicht auffassen, denn falsch ist er nicht. So bildet etwa in einigen Fälle der Strom die einzige Energiequelle fürs Aufbereiten von Warmwasser oder fürs Beheizen von Gebäuden. Diese von der Energiequelle Strom wegzubringen kann nicht bedeuten, nun einfach auf einige weitere Öl-Feuerungen umzustellen.
Andererseits ist davon auszugehen, dass beispielsweise immer mehr Fahrzeuge in Zukunft elektrisch betrieben werden. Der in jüngster Zeit immer teurer werdende Treibstoff liefert die nötige Motivation für einen Umstieg.
Planlose Umbau-Planung
Trotz sinnvoller «Mogelpackung»: Die Kommunikation des Bundesrats war und ist schon etwas wirr. So spricht er weiterhin vor allem vom «Ausstieg aus der Kernenergie». Dabei betrifft schon der erste Punkt der vorgeschlagenen Massnahmen die Energieeffizienz von Gebäuden – und zwar von allen Gebäuden und nicht etwa nur von jenen, welche heute elektrisch beheizt werden.
Wirr ist weiter auch die Etappierung in «Meilensteinen». Der erste Meilenstein wurde aufs Jahr 2020 festgelegt, der zweite aufs Jahr 2035 und der dritte aufs Jahr 2050. Aus den schriftlich vorliegenden Unterlagen geht zwar hervor, dass der Endenergieverbrauch bis 2035 um 17 Prozent und bis 2050 um 28 Prozent reduziert werden soll.
Wie viel davon einerseits auf den Strom entfällt und andererseits auf fossile Brennstoffe, bleibt offen. Unklar ist zudem, welches Jahr als Referenzjahr für die Berechnung dieser Prozentzahlen gilt.
Interessant dürfte auch die Frage des Ab- und Zubaus der verschiedenen Energiequellen in den nächsten Jahren sein. Hierzu gibt es lediglich eine relativ ungenaue Grafik, aus welcher wenig entnommen werden kann – und die Prognos-Studie (2012), welche der Bundesrat als Quelle angibt, steht online nicht zur Verfügung…
Dementsprechend unklar ist denn auch die Planung generell. Der «Fahrplan Energiestrategie 2050» klingt zwar nach viel, meint aber offensichtlich nur die gesetzgeberische Planung zur Verabschiedung dieser Strategie oder dieses Massnahmenpakets bis ins Jahr 2015.
Auch dazu ist noch vieles selbst seitens Bundesrat offen, schliesslich verabschiedete er am Mittwoch nur ein «erstes Massnahmenpaket». Weitere «Pakete» sollen folgen, wie (wenigstens) aus einem Satz entnommen werden kann: «Informationen zur Netzstrategie sowie zu Forschung und Entwicklung folgen in separaten Paketen im Sommer 2012.»
Dem Bericht «Stärkung der Stromdrehscheibe Schweiz und der Versorgungssicherheit», welcher ebenfalls am Mittwoch vom Bundesrat gutgeheissen wurde, kann dementsprechend entnommen werden, dass der Abschluss einer Studie über den Einfluss dieser Strategie auf die Netzinfrastruktur für die erste Hälfte 2012 geplant sei.
Strom ist Strom, das heisst, wie dieser ursprünglich produziert wurde, spielt für den Transport über ein Netz keine Rolle. Eine Rolle spielt hingegen, wo der Strom benötigt und wo er produziert wird.
Über die Standorte von möglichen, neuen Grosskraftwerken liegt aber nichts Schriftliches vor. Wie also ein Netz aus- oder umgebaut werden soll, wenn noch nicht bekannt ist, von wo nach wo der Strom zu fliessen hat, bleibt ein Rätsel.
Gross, grösser, abhängiger
Apropos Stromtransport: Er würde wesentlich weniger ins Gewicht fallen, wenn dort der Strom produziert würde, wo man ihn benötigt und wo man ihn produzieren könnte. 1,64 Millionen Gebäude soll es in der Schweiz geben. Das sind 1,64 Millionen Orte, an die Strom geliefert werden kann. Das sind aber auch 1,64 Millionen Gelegenheiten, eine Photovoltaik-Anlage aufs Dach zu stellen.
Auch wenn man davon aus Gründen des Heimatschutzes oder der schlechten Lage einige Gebäude abzieht, böten sich dennoch wohl gegen eine Million Gelegenheiten für neue erneuerbare Energien an. Ein solches Szenario wurde Mitte dieser Woche aber nicht vertreten.
Zwar sollen die erneuerbaren Energien gefördert werden, dies aber bitte schön dank Grosskraftwerken. Sie führen bereits heute dazu, dass jährlich fast gleich viel Elektrizität durch die Übertragung und Verteilung verloren geht wie für den gesamten (öffentlichen) Verkehr benötigt wird. Daran ändert morgen mehr «grüner» Strom durch Grosskraftwerke auch nichts.
Das ist stossend, denn: Währenddem wir alle zu mehr Energieeffizienz aufgerufen sind, fördert der Bund weiterhin ein Modell, bei dem sieben Prozent des Strombedarfs «unterwegs» verloren geht.
Je grösser gewisse Abhängigkeiten sind, desto fragiler wird ein Gesamtes. Die Abhängigkeit von Elektrizität ist an sich schon gross, diese verschärft sich noch durch Grosskraftwerke und deren Netzanbindung. Sinnvoller, weil sicherer, wären viele kleine Kraftwerke. Fällt die Produktion eines dieser kleineren Kraftwerke weg, wird dadurch nicht gleich das gesamte Stromnetz in Frage gestellt.
Derartige Sicherheitsüberlegungen stehen aber nicht im Zentrum dieser Energiestrategie. Auch die Abhängigkeit, oder besser gesagt die Unabhängigkeit von ausländischen Energiequellen haben keine zentrale Bedeutung. Andernfalls dürfte wohl kaum auf Gaskombikraftwerken gesetzt werden, deren Brennstoff aus politisch, demokratisch und menschenrechtlich instabilen Ländern stammt…
Idealisten gesucht
Der schwächste Punkt der vom Bundesrat vorgeschlagenen «ersten» Massnahmen betrifft aber den Grundton an sich. Da ist häufig von «Anreizen», «Förderung» oder «Freiwilligkeit» die Rede, was – wenn es nicht um ein so wichtiges Thema wie die Energieversorgung ginge – sicher der richtige Grundton wäre.
Doch ein Anreiz oder eine Förderung bedeutet im Klartext: Wir unterstützen Dich, aber Du musst auch noch selber etwas dazu beitragen. Das dürfte bei Idealisten Anklang finden. Sie bilden aber vermutlich nur eine Minderheit.
Darum ist es fraglich, ob dieses Anreiz-/Förder-/Freiwilligkeitsprinzip tatsächlich Wirkung zeigt oder ob dieses nur eine zahnlose Sache ist. Die Alternative dazu bilden strikte Vorschriften, Zwänge oder Verbote.
Die mag niemand. Es stellt sich aber schon die Frage, ob es nicht dennoch Themen oder Bereiche gibt, in denen auch zwingende gesetzliche Vorgaben nicht Sinn machen würden.
Ein einfaches Beispiel: Die Energieetikette gibt es inzwischen schon seit Jahren. Hersteller von «Stromschleudern», welche die Botschaft dahinter noch nicht verstanden oder die Gelegenheit zur Herstellung effizienterer Geräte noch nicht genutzt haben, sollten die fraglichen Modell gar nicht mehr auf dem Markt anbieten dürfen. Derartige Geräte ab einer gewissen Energieeffizienzklasse gehörten daher nach einer letzten «Schonfrist» verboten.
Ein anderes Beispiel: Wer heute noch Gebäude baut oder Aussenhüllen erneuert und dabei energiesparende Aspekte in den Wind schlägt, hat nicht verstanden, welche Stunde es geschlagen hat. In zehn Jahren lässt sich ein solches Gebäude trotz den heute getätigten Investitionen nicht mehr verkaufen. Darum stellt sich auch hier die Frage, ob Vorgaben, die in etwa dem Minergie-Standard entsprechen, nicht ebenfalls zwingend sein sollten.
Doris Leuthard hat am Mittwoch zum Umdenken aufgerufen. Dazu gehört auch, vom Freiwilligkeitsprinzip dann abzuweichen, wenn dieses nicht sinnvoll oder wirkungslos ist. So bleibt zu hoffen, dass das «Monitoring», anhand welchem man die tatsächliche Wirkung dieser Massnahmen messen will, bald mit aktuellen Daten aufgebaut ist, sodass nötige Korrekturen «schnell» vorgenommen werden könnten.
Wobei: «Schnell» bedeutet in der Politik immer mindestens drei Jahre. Vielleicht sollten Sie doch langsam Kerzen kaufen gehen und sich warm anziehen…? 😉