Eurovision? Aserbaidschanvision? Willkürvision!

Erneut erwartet uns ein Grossereignis, an dessen Austragungsort die Menschenrechte wegen diesem Ereignis sogar noch zusätzlich mit Füssen getreten werden. Kümmern tut das unter den Beteiligten niemanden. Oder vielleicht doch?

Diese Woche startet in Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans, der alljährliche «Eurovision Song Contest». Der Austragungsort liegt deshalb in Aserbaidschan, weil dieses Land im vergangenen Jahr den Wettbewerb gewann und deshalb gemäss den Regeln der verantwortlichen European Broadcasting Union (EBU) automatisch den Zuschlag für die nächste Austragung erhält.

Keine Sanktionen sind «gute Gründe»

Dass Aserbaidschan überhaupt an diesem Anlass teilnehmen kann, liegt daran, dass auch das staatliche Fernsehen des ans kaspische Meer grenzende Land Mitglied bei der EBU ist. Zwar hat dieses Land mit Europa so gar nichts gemeinsam, aber damit steht Aserbaidschan bei weitem nicht alleine da.

Die Unterschiede zu Europa zeigen sich vor allem in der staatlichen Willkür, wie der nachfolgende Beitrag aufzeigt:

10vor10 vom 18.05.2012

Die schon fast entschuldigende Argumentation gegen Beitragsende von Ingrid Deltenre, der EBU-Generaldirektorin und früheren Direktorin des Schweizer Fernsehens, ist typisch für viele derartige Anlässe: Dank Medientross würden nicht nur die schönen, sondern auch die Schattenseiten eines Landes aufgezeigt.

Nun kann man unter dem Begriff «Schattenseiten» ja vieles verstehen. Angesprochen auf den Austragungsort und die dort herrschende Menschenrechtssituation dürfte mit diesem Begriff aber wohl eindeutig die Missachtung der Menschenrechte gemeint sein. Das heisst, Deltenre ist sich der Menschenrechtssituation am Austragungsort sehr wohl im Klaren, sie spielt diese aber bewusst herunter.

Das tut sie, in dem sie mit süffisantem Lächeln von «guten Gründen» spricht, warum der Eurovision Song Contest in Aserbaidschan ausgetragen werden soll. Diese «guten Gründe» lauten wie folgt: Keine politische Organisation, weder die UNO noch die EU oder der Europarat hätten Sanktionen gegen Aserbaidschan ausgesprochen.

An Scheinheiligkeit ist diese Aussage kaum zu überbieten. Sie impliziert nämlich, dass bei Menschenrechtsverletzungen erst die internationale Gemeinschaft Sanktionen aussprechen müsse, damit diese wahr werden.

Sanktionen, das sollte jeder Blondschopf bei der EBU wissen, treffen häufig die breite Bevölkerung – also die Falschen – und nur selten jene Personen, welche für die aktuellen Verhältnisse verantwortlich sind. Sie sind darum kaum sinnvoll.

Nur Ausflüchte

Die von Deltenre angesprochene UNO, das wurde vergangene Woche wieder deutlich, ist nicht einmal in der Lage eine Reform durchzubringen, bei der die fünf Vetomächte im Falle von Menschenrechts- und Kriegsverbrechen nicht mehr ihr Veto einlegen könnten. Auch sonst tat sich die UNO in der Vergangenheit mit Sanktionen gegen ein Land immer wieder schwer. Sanktionen der UNO als Massstab zu nehmen ist darum mehr als fragwürdig.

Die EU und ihre Mitglieder sind wiederum zu sehr mit der «Schuldenkrise», Griechenland und dem Euro beschäftigt und haben darum ganz andere «Sorgen» als das Aussprechen möglicher Sanktionen gegen Aserbaidschan.

Abgesehen davon ist Aserbaidschan ein wichtiger Rohstofflieferant. Dass man nicht an dem Ast sägt, auf dem man sitzt, dürfte auch Deltenre wissen, welche ein gut beheiztes Büro sicher auch zu schätzen weiss…

So bleibt schliesslich noch der ebenfalls genannte Europarat. Doch der hat zu aktuellen Ereignissen per se wenig zu sagen, in Sachen Sanktionen schon gar nicht. Er kann bestenfalls gegen die Lage vor Ort einen Protest aussprechen.

Deltenre weicht aber auch noch anderweitig dem Thema aus, indem sie von «politischen Organisationen» spricht, welche keine Sanktionen ausgesprochen hätten.

Wer mehr über die Menschenrechtssituation in einem Land wissen will, sollte sich weniger an ausgesprochenen Sanktionen durch politische Organisationen orientieren. Stattdessen erkundigt man sich am besten dort, wo in Sachen Menschenrechte besonders kritisch hingeschaut wird: Bei Menschenrechtsorganisationen.

Auf der internationalen Website von Amnesty International finden sich Berichte über die Menschenrechtssituation in Aserbaidschan bis zurück ins Jahr 2007, also lange bevor überhaupt feststand, dass der diesjährige Wettbewerb am kaspischen Meer stattfinden wird. Bei Human Rights Watch reichen die online verfügbaren Berichte sogar bis ins Jahr 1997 zurück, und bei gleichartigen Organisationen dürfte es ähnlich aussehen.

Ein paar Mausklicks würden genügen, um wenigstens ein ungefähres Bild der Situation in Aserbaidschan zu erhalten. Zu dumm nur, dass diese Nichtregierungsorganisationen keine «politischen Organisationen» sind, welche Sanktionen aussprechen können…

Fehlendes Feingefühl für die Lage vor Ort

So oder so: Deltenre scheint der Illusion verfallen zu sein (oder sie tut zumindest so), dass sich dank einem solchen einmaligen Anlass die Menschenrechtssituation in Aserbaidschan verbessern könnte.

Genau das Gegenteil ist der Fall, wie der Beitrag oben zeigt: Die Austragung dieses Komponistenwettbewerbs in Aserbaidschan ist ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, dass gerade wegen diesem Anlass weiteres Leid angerichtet wird.

Das bedeutet, dass es eigentlich besser wäre, man würde solche Anlässe gar nicht erst in einem derartigen Land durchführen. Es dennoch zu tun, gibt den Fehlbaren Recht.

Sie, die Fehlbaren, werden sodann weiter unter anderem die Pressefreiheit einschränken und gegen unbequeme Journalisten vorgehen. Die Journalisten sind übrigens diejenigen, welche am Anfang dessen stehen, was die EBU verbreitet, nämlich Inhalte.

Die EBU hätte auch darum ein Interesse an der Einhaltung der Menschenrechte. Doch von jemandem, der selber nie Inhalte produzierte und «draussen an der Front» war, sondern immer nur bequem vom Bürostuhl aus für deren Verbreitung sorgte, kann man nicht erwarten, dass er (oder sie) sich besonders für die Menschenrechte ins Zeug legt.

Wenn die Offiziellen schon keinen Mut haben, sich gegen die Verletzung von Rechten zu wehren, welche bei uns selbstverständlich sind, bleibt nur noch die Hoffnung, dass in dieser Woche vielleicht der eine oder andere Interpret mit einer visuellen Einlage während des Auftritts gegen die aktuelle Situation in Aserbaidschan protestiert. Dann wäre dank dieser Blossstellung dieser Anlass nicht ganz umsonst in Aserbaidschan gewesen.

6 Antworten auf „Eurovision? Aserbaidschanvision? Willkürvision!“

  1. Ja, die Haltung der EBU befremdet mich auch. Andererseits – Welche Zeitung, welcher Blog würde über die Menschenrechtssituation in Asarbeidschan berichten, fände der ESC nicht dort statt.

  2. @ tinu
    Ich erlaube mir, die Frage umzudrehen: Warum braucht es erst einen ESC, bis auch die Massenmedien endlich über die Menschenrechtssituation in Aserbaidschan berichten?

    Wie ich oben schon erwähnte, verfassen die Menschenrechtsorganisationen schon seit Jahren Berichte über die Lage pro Land. Ich würde sogar wetten, dass diese Organisationen auch regelmässig Medienmitteilungen verschicken. Ich vermute aber, dass es ob so mancher seichten Banalität einfach keinen Platz mehr für ernsthaftere Themen hat…

  3. @titus berechtigte Gegenfrage. Die Massenmedien – der Name sagt es – sind eben meist dort, wo die Massen sind. Selber Themen setzen ist leider selten.
    Der Empfehlung für den Bakublog kann ich mir nur anschliessen.

  4. @ tinu
    Wer, wenn nicht die Massenmedien, setzen denn Themen?

    @ bugsierer
    Danke für den Link.

    Und was die Deppen anbelangt: Damit wäre bewiesen, dass es Menschen gibt, die nicht einmal bis auf drei zählen können…

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