In knapp drei Wochen stimmt das Schweizer Stimmvolk unter anderem über die Volksinitiative «Für die Stärkung der Volksrechte in der Aussenpolitik (Staatsverträge vors Volk)». Hierzu meine Meinung fernab der «offiziellen» Argumente.
Wenn etwas häufiger beansprucht wird, dann erhält es zwar eine höhere Bedeutung. Durch die häufigere Beanspruchung wird diese Sache aber nicht gestärkt. Eher das Gegenteil ist der Fall: Die höhere Beanspruchung führt zu einer grösseren Abnützung und damit wohl eher zu einer Schwächung.
Abnützungserscheinungen (?)
Darum ist auch diesmal der Titel dieser Initiative verfänglich. Indem wir in Zukunft über mehr Vorlagen abstimmen sollen, wird das Instrument der Volksabstimmung an sich nicht gestärkt. Es erhält vielmehr eine höhere Bedeutung, weil mehr mitbestimmt werden kann. Aber – wie bereits erwähnt – führt eine höhere Beanspruchung auch zu einer grösseren Abnützung.
Nicht selten ist bei einer Volksabstimmung mit einer Stimmbeteiligung von um die 35 Prozent zu rechnen. Etwa drei Wochen Zeit hätte jeder Stimmberechtigte, sich mit den verschiedenen Vorlagen auseinanderzusetzen, die Stimmzettel auszufüllen und rechtzeitig abzuschicken.
An Zeitmangel kann es also nicht liegen, dass sich trotzdem nicht mehr zu Abstimmungen bewegen lassen. Es ist wohl ganz einfach das Desinteresse an den Vorlagen – einschliesslich des Sich-nicht-betroffen-fühlens – dass sich heutzutage nicht mehr Menschen zur Urne bewegen lassen.
Über noch mehr Vorlagen eine Stimme abgeben zu «müssen» kann zu zwei Reaktion führen: Entweder die Stimmbürger fühlen sich (noch mehr) überfordert und gehen überhaupt nicht (mehr) stimmen oder es ist ihnen zu müssig, sich mit jeder Vorlage genauer auseinanderzusetzen, sodass sie nur spontan beziehungsweise aus dem Bauch heraus abstimmen.
Weniger ist manchmal mehr, weshalb ich den folgenden Worten des Bundesrats voll und ganz zustimme:
«Die Stimmberechtigten sollen nicht über möglichst viele, sondern über die entscheidenden Vorlagen abstimmen.»
In diesem Sinne orte ich auch einen Mangel bei dieser Initiative. Sie fokussiert sich nämlich nur auf Staatsverträge und tut so, als ob von diesen unsere halbe Existenz abhängen würde.
Das ist mir zu wenig. Ich möchte über alle entscheidenden Vorlagen abstimmen können, also auch solche, bei denen es gar nicht erst um Staatsverträge geht, sondern «nur» über ein wichtiges Gesetz, eine wichtige Gesetzesänderung oder einen wichtigen Grundsatzentscheid.
Bereits existierende «Leerläufe»
Diese Garantie habe ich heute nicht. Für viele Neuerungen oder Änderungen liegt es vorwiegend am Parlament zu entscheiden, ob darüber abgestimmt werden soll oder nicht.
Eine bessere Garantie dazu zu erhalten, dass wir immer über alle «entscheidenden» oder «wichtigen» Vorlagen abstimmen können, entspräche eher dem, was ich unter einer «Stärkung der Volksrechte» verstehe.
Nur: Wann ist eine Vorlage «entscheidend» oder «wichtig»?
Heute entscheidet sich diese Frage häufig auch im Rahmen eines ergriffenen Referendums. Das heisst, 50‘000 Unterzeichnende entscheiden darüber, ob über ein von Bundesrat und Parlament verabschiedetes Gesetz (oder Gesetzesänderung) eine Volksabstimmung durchgeführt werden soll. Das war beispielsweise bei der so genannten «Managed Care»-Vorlage der Fall, über welche ebenfalls am 17. Juni 2012 abgestimmt wird.
Dieses «System» der 50‘000 Unterschriften ist nicht über alle Zweifel erhaben. Einerseits hat jeder, der um eine Unterschrift gebeten wird, noch schnell einmal seine Unterschrift gegeben, selbst wenn er oder sie gar nicht genau weiss, worum es eigentlich geht.
Andererseits ist der Aufwand fürs Sammeln dieser Unterschriften relativ hoch und mit Kosten verbunden. Diese Kosten werden dem Referendumskomitee auch dann nicht zurückerstattet, wenn es die Abstimmung gewinnt (und Bundesrat wie Parlament falsch lagen).
Wenn also die Volksrechte gestärkt werden sollen, dann in dem Sinne, dass mit weniger Aufwand, aber einem intelligenteren System als dem des heutigen Unterschriftengebens darüber befunden werden soll, ob eine Abstimmung zu einer Vorlage durchzuführen ist.
Denn: Die «Leerläufe», vor denen der Bundesrat bei dieser Vorlage warnt, weil wir in Zukunft auch über unbestrittene Staatsverträge abzustimmen hätten, diese Leerläufe gibt es heute schon.
Sie sind erst darum möglich, weil 50‘000 (Referendum) oder 100‘000 (Initiative) Personen relativ unbedacht ihre Unterschrift geben und damit hauptsächlich zu (noch mehr) Abstimmungsvorlagen beitragen, für die sich dann wiederum nur 35 Prozent der Stimmberechtigten interessieren…
Das Märchen vom Ausverkauf der Heimat
Mich stört an dieser Vorlage aber noch ein letzter Punkt: Es ist dieses unterschwellig ausgedrückte Misstrauen vor allem gegenüber dem Bundesrat in Sachen Staatsverträge, so als ob es darum ginge ihn daran zu hindern, die Heimat zu verkaufen.
Der Bundesrat weiss selber relativ genau, was an Zugeständnissen gegenüber dem Ausland drin liegt und was nicht. Ich hatte in der Vergangenheit auf jeden Fall nie den Eindruck, dass bewusst im Geheimen Dinge mit dem Ziel ausgehandelt wurden, der Schweiz oder ihrer Souveränität zu schaden.
Das blosse Ansprechen davon, wie man mit neuem EU-Recht oder mit EU-Gerichtsentscheiden umgeht, darf nicht als Befürwortung einer automatischen Übernahme dieses Rechts oder dieser Rechtsprechung in der Schweiz gewertet werden. Der Bundesrat, aber auch das Parlament, wissen beide sehr genau, wie heikel diese Themen sind.
Unsere demokratischen Rechte zu stärken würde ich begrüssen. Die Menge allein – das gilt sowohl für die Anzahl abzustimmender Vorlagen wie auch für die Anzahl Unterschriften – reicht dafür aber nicht aus.
Ich erwarte einen ganzheitlichen Ansatz zur Stärkung der Volksrecht, ungeachtet dessen, ob es sich um Anliegen betreffend Aussen- oder Innenpolitik handelt. Da ich in mehr Vorlagen eher noch grössere «Abnützungserscheinungen» betreffend Stimmbeteiligung sehe und da ich keinen Anlass dafür habe, eine Änderung der bisherigen Praxis zu fordern, werde ich ein «Nein» zu dieser Volksinitiative in die Urne legen.
P. S.: Die Argumente des Nein-Komitees überzeugen mich nicht sonderlich und wirken etwas altbacken, weshalb ich sie oben auch nicht verwendete.
Weitere Informationen zum Thema
- parlament.ch: Dossier «Staatsverträge vors Volk!»
Ich kann all diese boshaften Unterstellungen auch schon gar nicht mehr hören:
„Mich stört an dieser Vorlage aber noch ein letzter Punkt: Es ist dieses unterschwellig ausgedrückte Misstrauen vor allem gegenüber dem Bundesrat in Sachen Staatsverträge, so als ob es darum ginge ihn daran zu hindern, die Heimat zu verkaufen.
Der Bundesrat weiss selber relativ genau, was an Zugeständnissen gegenüber dem Ausland drin liegt und was nicht. Ich hatte in der Vergangenheit auf jeden Fall nie den Eindruck, dass bewusst im Geheimen Dinge mit dem Ziel ausgehandelt wurden, der Schweiz oder ihrer Souveränität zu schaden.“
Die Macht des BR ist wirklich sehr begrenzt, aber es wird wieder mal so getan, als ob der tatsächlich eine Art verschwörerischer Geheimbund wäre, der mit der ganzen Schweiz machen könne, was er wolle, als ob es kein Parlament gäbe, als ob es auch keine Referenden gäbe…
@ Ursula
Beweis für die „Ohn(e)-Macht“ des Bundesrats ist ja schon alleine unser Regierungssystem. Da gibt es keinen „Big Boss“, so wie das beispielsweise in einigen Nachbarländern der Fall ist.
Im Regelfall kann auch das einzelne Bundesratsmitglied nicht nach freiem Willen ziemlich heroisch Dinge entscheiden. Es gibt allerdings Ausnahmen. Währenddem das Schweizer Stimmvolk vor einigen Jahren der so genannten Kohäsionsmilliarde für die neuen EU-Staaten zustimmen musste, wird über den Westast der A5 hier in Biel der Bundesrat entscheiden. Dabei geht es ja „nur“ um 1,6 Milliarden Franken…
Ich schliesse mit der Ansicht von Titus und der Ergänzung von Frau Schüpbach voll und ganz an. Ich finde es an sich schon bemühend, wie man dem Bundesrat einfach ganz grundsätzlich mal Handel wider die Interessen der Schweiz vorhält. Immerhin: unser BR wurde vom Parlament gewählt. Und das Parlament wiederum sind unsere Vertreter in Bern, die wir – das Stimmvolk – gewählt haben. Insofern finde ich es dann schon irgendwo zwischen peinlich und unverschämt, wenn insbesondere Vertreter des ganz rechten Lagers allen anderen Parlamentariern offen oder verklausuliert vorhalten, nicht im Sinne des Schweizer Volkes zu handeln. Als Stimmbürger nehme ich das gelegentlich sogar etwas persönlich, denn daraus lese ich die Ansicht heraus, ich sei nicht am Wohl unseres Landes interessiert.