Als ob nichts geschehen wäre

Die Ursache für das Zugunglück in Neuhausen ist geklärt: Es lang an dem, was allgemein als «menschliches Versagen» verstanden wird. Die Reaktion der Medien, aber vor allem der betroffenen Bahnunternehmung Thurbo ist mehr als erstaunlich.

Das ging ja schnell: Am vorletzten Donnerstag, 10. Januar, kollidierten im Bahnhof Neuhausen zwei S-Bahn-Züge und keine Woche später, am 17. Januar, informierte die Unfalluntersuchungsstelle (SUST) bereits über die Ursache dieser einigermassen glimpflich abgelaufenen Kollision.

Quasi zwei Schuldige

Möglich war das nur, weil die vorliegenden Fakten eindeutig sind, insbesondere die Daten der Fahrtenschreiber. Demnach lag die Ursache beim Lokführer des Thurbo-Zuges. Dieser fuhr zu früh los und missachtete ein auf Halt stehendes Signal.

Fall geklärt, Akte geschlossen?

Für die SUST sicherlich nicht. Sie will noch die «Gefährlichkeit dieser Ausfahrt sichten und beurteilen» und prüfen, ob es in der Vergangenheit in diesem Bahnhofsbereich zu ähnlich gefährlichen Zwischenfällen kam.

Für die Medien scheint die Sache hingegen abgeschlossen zu sein. Die Schuld liege beim Lokführer des Thurbo-Zuges – und beim fehlenden Sicherungssystem. Zumindest ist das der Eindruck, der bei mir durch jene Medienberichte geweckt wurde, welche sich auf die Depeschen der SDA abstützten.

In der offiziellen Medienmitteilung der SUST ist hingegen in keinem einzigen Wort die Rede davon, dass mit einem Sicherungssystem diese Kollision hätte verhindert werden können. Erst durch eine Anfrage der SDA äusserte sich Walter Kobelt, Leiter der SUST, in diese Richtung.

Oder mit anderen Worten: Weil da jemand bei der SDA wohl einmal etwas von einem Sicherungssystem namens ZUB gehört oder gelesen hatte, wird dieser Punkt plötzlich zu einem Thema, so als ob ein solches System zwingend wäre oder so als ob hier ein gravierender technischer Rückstand vorläge.

Demgegenüber werden andere Punkte überhaupt nicht kritisch hinterfragt. Dazu gehört etwa die Frage, wie gefährlich der heutige Bahnalltag ohne ein solches System überhaupt ist. Müssen Zugfahrende um ihre Sicherheit bangen, weil der Druck auf die Lokführer schier unerträglich geworden ist? Wo und wann ist die Situation am schlimmsten, wenn dem so wäre?

Interne T(h)urbo-Unfallbewältigung

Mich stört an der Sache aber noch ein anderer Punkt, der von den Medien einfach so geschluckt wurde. Es geht um eine Äusserung von Thurbo:

Der Unfall hat auch ein juristisches Nachspiel. Die Schaffhauser Staatsanwaltschaft hat ein Verfahren eröffnet, unter anderem gegen den betroffenen Lokomotivführer. Dies sagte Anja Schudel, Sprecherin der Schaffhauser Polizei. Der Mann, der nach dem Unglück psychologisch betreut wurde, befindet sich zurzeit in den bereits vor dem Unfall geplanten Ferien, wie Gallus Heuberger, Sprecher der Regionalbahn Thurbo, auf Anfrage sagte. «Danach wird er wieder bei uns als Lokomotivführer arbeiten, sofern er sich dazu in der Lage fühlt», so Heuberger. Intern laufe kein Verfahren gegen den Mann.

Ich möchte wahrlich nicht in der Haut dieses Lokführers stecken und bin auch nicht der Meinung, dass man ihn nun brandmarken soll. Im Gegenteil.

Dennoch: Dieser Mann hat in einem der wichtigsten Momente etwas vom Wichtigsten beim Führen eines Zuges nicht beachtet, damit 280 Menschenleben in Gefahr gebracht, einige davon verletzt und schliesslich auch noch einen Millionenschaden verursacht.

Es kann doch nicht sein, dass Thurbo diesen Mann nach seinen Ferien und nach seinem eigenen Ermessen («…sofern er sich dazu in der Lage fühlt») wieder ans «Steuer» einer Lokomotive lässt, so als ob nichts geschehen wäre, und dies ohne wenigstens nach den Gründen für das Verhalten dieses Lokführers zu forschen und ohne das Resultat des angekündigten juristischen Verfahrens abzuwarten.

Jedem Automobilisten, der eine mittelschwere oder schwere Widerhandlung des Strassenverkehrsgesetzes begeht, wird der Fahrausweis entzogen. Auch wer sonst bei seiner täglichen Arbeit Menschenleben oder Sachgüter fahrlässig in Gefahr bringt, muss mit Konsequenzen rechnen, von einer temporären Suspendierung bis hin zu einer fristlosen Entlassung. Beim fraglichen Lokführer will dessen Arbeitgeber aber nicht einmal nach körperlichen oder psychischen Gründen suchen – und niemand fragt kritisch nach.

Nochmals: Ich will niemanden brandmarken. Aber wenn aus Unfällen wie diesem hier auch firmenintern etwas gelernt werden soll, dann ist es unverzichtbar, nach den Gründen zu suchen. Andernfalls könnte ein anderer Lokführer – oder der gleiche – diesen Fehler (noch einmal) begehen.

Von Thurbo kann eine anständige Unfallbewältigung offensichtlich nicht erwartet werden. Auf der Website dieses eigenständig agierenden Unternehmens, welches aber zu 90 Prozent den SBB und zu zehn Prozent dem Kanton Thurgau gehört, findet sich nicht einmal ein einziges Wort zu diesem Unglück. Kein Bedauern, keine Entschuldigung, keine Stellungnahme gegenüber der Öffentlichkeit und vor allem gegenüber den vom Unfall Betroffenen.

Man zieht es scheinbar lieber vor, möglichst schnell Gras über die ganze Sache wachsen zu lassen. Ob dies bei allen dauerhaft spriesst, welche irgendwo den Schriftzug von «Thurbo» sehen? Ich bezweifle es.

Übrigens: Um den Gründen für das Verhalten des betroffenen Lokführers nachzugehen, hilft auch kein Sicherungssystem ZUB…

5 Antworten auf „Als ob nichts geschehen wäre“

  1. Wieviele PW-Fahrer sterben jedes Jahr unschuldig, und wieviele bekannte Sicherheitsmängel hat das Strassensystem?

    Bei der Bahn kann immerhin gesagt werden, dass beim Neubau einer Strecke das neusete Sicherheitssystem verwendet wird.
    Bei der Strasse muss leider gesagt werden, dass bei jeder neuen Strecke immer wieder die gleichen Fehler gemacht werden.

  2. Natürlich wäre es angebracht, dass sich die „schuldige“ Bahn für Verspätungen usw. öffentlich entschuldigt.
    Ich gehe jedoch davon aus, dass die Verletzten eine persönliche Entschuldigung erhalten haben. Und das geht die Öffentlichkeit gerade gar nichts an.

  3. @ Raffnix
    Autos haben heute bekanntlich mehr Sicherheitsvorrichtungen als noch vor hundert Jahren. Dementsprechend ist das Sicherheitsempfinden relativ hoch. Das führt allerdings nachweislich dazu, dass auch mehr Risiken eingegangen werden, also dass z. B. schneller gefahren wird – es kann einem ja fast nichts mehr passieren…

    Wie genau sich Thurbo gegenüber den Verletzten entschuldigte, geht die Öffentlichkeit sicher nichts an. Dennoch wäre es wichtig, wenn die Öffentlichkeit wüsste, dass sich dieses Unternehmen entschuldigte. Andernfalls entsteht sonst der Eindruck, als ob sich dieses Unternehmen nicht für das Schicksal der Betroffenen interessierte.

  4. Ich finde, der Vergleich von Raffnix hinkt etwas. Der Strassenverkehr wird von hunderten Individuen, die alle ihre kleine Freiheit wünschen, bevölkert. (Ich nehme mich da nicht aus 😉 )

    Einschränkende, bauliche Massnahmen für die Verkehrssicherheit verhindern leider nicht ein allfälliges Fehlverhalten seitens der Verkehrsteilnehmer. Wenn man vergleichbare Schutzmassnahmen fordert, wie sie bei der Bahn, oder noch schärfer: im Flugverkehr bestehen, dann müsste ich am Morgen eine Stunde früher aufstehen, meinen Wagen mit einer dreiseitigen Checkliste auf Fahrtüchtigkeit überprüfen, und dann die defekte Abblendlichtbirne austauschen, da ich sonst nicht starten kann, usw.

    Im Strassenverkehr gehören die zahlreichen Unfallnachrichten leider zum Alltag. Kein Morgen ohne Verkehrsnachrichten mit „Stau wegen Unfall …“. Ursache ist häufig zu nahes Auffahren, Unachtsamkeit und Ablenkung. Ein Unfall mit Personenschaden bei Bahn- und Luftverkehr lösen da meist grössere „Betroffenheit“ aus, weil das dort doch einfach nicht geschehen darf, im Strassenverkehr sind wir da grosszügiger. Unfälle gehören irgendwie dazu, weil sich jeder mündige Bürger mit Fahrerlaubnis sich in den Führerstand setzen und selber Gas geben darf.

    Im Unkehrschluss müsste es halt für alle Bahn- und Busreisenden einen Sitzplatz mit Gurten in den Fahrzeugen haben, damit niemand herumgewirbelt wird, falls es zum Aufprall kommt. Unrealistisch, weil praktisch nicht durchführbar.

    Fazit: Absolute Sicherheit im öffentlichen Raum ist eine Utopie, will man die Individualität nicht total einschränken. Aber ein gesunder Respekt vor Gefahren und Mitmenschen bringt uns da ein Stück näher ran.

  5. @bobsmile
    so ganz unterschiedlich denken wir ja nicht.
    Andererseits passierte dieser Unfall wegen Unachtsamkeit, und dies kann leider jedem passieren. Dass bezüglich Professionalität von einem Lokführer mehr verlangt wird, ist klar. Gerade dort, wo Routine usus ist, wird auch mal was übersehen. Und deshalb sind dort zeitgemässe Sicherheitsvorrichtungen angebracht. Leider muss dies jemand bezahlen, und der Einbau braucht auch Zeit. Wenn die Bahn Geld braucht, heult die rechte LKW-Lobby auf. Wichtiger sind zurzeit die Gripen ….. da scheint Geld vorhanden zu sein. Ob die kostendeckend sind?
    Im Strassenverkehr beobachte ich aber gerade bei Professionellen wie LKW-Fahrern oder Taxifahrern genau das Gegenteil.

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