Ein unnötiger Suizid

Wenn etwas auf eine Unverjährbarkeit abzielt, könnte man meinen, diese gälte auch rückwirkend. Dass dem nicht so ist, hat nun zu einem Selbstmord geführt – unnötig, wie man in der Augenreiberei meint.
 
Es ist eine traurige Geschichte, welche die «24 Heures» als Schwerpunkt-Thema in ihrer Ausgabe vom 11. Mai 2009 brachte.

Die Vorgeschichte

Sie nahm ihren Anfang vor 27 Jahren. «Valérie», wie sie von der Redaktion besagter Zeitung anonymisiert genannt wird, wurde als 13-jähriges Mädchen allabendlich von ihrem Vater sexuell missbraucht.

Erst 2007 findet sie den Mut, ihren Peiniger vor Gericht zu ziehen. Doch zu diesem Zeitpunkt galt für diese Straftat noch eine Verjährungsfrist von 15 Jahren. Deshalb hatte ihre Klage vor Gericht keine Chance. Affaire classée.

Neue Hoffnung keimte in ihr auf, als am 30. November vergangenen Jahres die Volksinitiative zur «Unverjährbarkeit pornografischer Straftaten an Kindern» vom Schweizer Volk knapp angenommen wurde.

Enttäuschte Hoffnung

Doch die Freude war nur von kurzer Dauer. An der Medienkonferenz am Abend des fraglichen Abstimmungssonntags lautete die erste von einer Journalistin gestellten Frage, ab wann denn die Initiative gelten würde. Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf liess verlauten «ab heute». Sie präzisierte weiter, dass für bereits begangene Straftaten noch das alte Recht gelte. Dies sei im Strafrecht so üblich…

Um sicher zu gehen, ob Valérie die Antwort der Justizministerin richtig verstanden hatte, fragte sie per E-Mail beim Eidgenössischen Justizdepartement (EJPD) nochmals nach. Das EJPD offenbarte ihr in seiner Antwort, dass der fragliche Bundesverfassungsartikel 123 nicht rückwirkend angewandt werden könne.

Eine unerträgliche Antwort

Diese «endgültige» Antwort konnte sie nicht ertragen. Mittels eines Medikamenten-Cocktails nahm sie sich in ihrem Auto am 4. März dieses Jahres im Alter von 40 Jahren das Leben. Sie hinterlässt einen Ehemann mit zwei Kindern im Alter von 14 und 11 Jahren…

Nebst einem Abschiedsbrief an ihren Ehemann findet die Polizei auch noch die folgenden Wort auf einen Autositz gekritzelt: «Sag meinem Vater, dass er gewonnen hat»…

Interpretationsstreit

Im fraglichen Blatt hat nun der Streit über die Interpretation bezüglich rückwirkender Anwendung dieser Initiative begonnen. Einerseits wird der Initiantin, der Vereinigung «Marché blanche», vorgeworfen, sie hätte es unterlassen, den ohnehin schon relativ ungenau abgefassten Verfassungsartikel bezüglich rückwirkender Anwendung zu präzisieren.

Auf der anderen Seite meint das EJPD, man hätte schon vor der Abstimmung in den Medien davon gesprochen, dass dieser Artikel keine solche Anwendung fände, falls er angenommen würde. Dies wird auch in der Ausgabe vom 12. Mai 2009 der 24 Heures nochmals betont. In den Abstimmungsunterlagen findet sich dazu auf jeden Fall nichts.

So überrascht es auch nicht, dass kaum ein Stimmender davon ausgegangen ist, dass er nicht rückwirkend gälte, sollte die Initiative denn angenommen werden. Grund für dieses (Miss-)Verständnis dürfte wohl der Begriff «Unverjährbarkeit» sein. Dieser suggeriert bei vielen unbewusst eine rückwirkende Anwendung.

Anwendungsregeln

Oscar Freysinger stellt nun eine parlamentarische Initiative in Aussicht und hofft auf Erfolg, um diesen Missstand bezüglich der (noch) nicht rückwirkenden Anwendbarkeit zu ändern.

Unverjährbar nach heutigem Recht sind nebst dem fraglichen, seit dem 30. November 2008 gültigen Verfassungsartikel nur noch Völkermord sowie Terrorismus. Es mag richtig sein, dass für viele Straftaten eine Verjährungsfrist gilt. Körperlich oder psychisch erlittenes Leid sollte hingegen nie einer Verjährung unterworfen sein, denn auch diese können wie die beiden genannten Straftaten in gewisser Weise als «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» verstanden werden.

Schliesslich gilt es nicht ausser acht zu lassen: Die Opfer derartiger Straftaten bleiben ein Leben lang Opfer. Es wäre daher wünschenswert, das Strafrecht in diesem Sinne einmal generell zu hinterfragen. Das sind wir den Opfern schuldig.