Die mysteriöse Auftraggeberin
Dienstag, 26. Mai 2009
Wie jeden Morgen weckt Hürlimann auch heute der Wurf der «Seeländer Nachrichten» an seine Bürotür. Seine Armbanduhr verrät ihm, dass es sieben Uhr zwanzig ist. Es musste draussen schön sein, denn bei Regenwetter war der Zeitungsträger immer schneller unterwegs, sodass er auch früher die Runde in jenem Haus machte, in welchem Hürlimanns Büro lag.
Sofort fällt ihm wieder den gestrigen Anruf ein. Oder hat er davon etwa nur geträumt? In vierzig Minuten wird seine Bank geöffnet haben, dann wird er Gewissheit darüber erhalten, ob tatsächlich eine Anzahlung eingetroffen ist und der Telefonanruf doch kein Traum war.
Ihm bleibt noch genügend Zeit für seine Morgentoilette und um sich auf seiner alten Kaffeemaschine einen Filterkaffee zu machen. Das mangels Aufträgen übliche Ritual des Zeitungslesens vor dem Verlassen des Büros lässt er diesmal sein. Das kann warten.
Auch seinen Kaffee, schwarz und ohne Zucker, trinkt er diesmal nur zur Hälfte, bevor er sich auf den Weg macht. Bei der Bank angekommen ist er der erste Kunde. Es ist auch erst fünf vor acht, doch offensichtlich haben die Angestellten schon alle Noten gebündelt, um die Eingangstüre heute etwas früher als angegeben zu öffnen.
Dem Alter nach zu schliessen bedient ihn eine Lernende, schlussfolgert Hürlimann. «Ja, heute Morgen ist eine Zahlung im von Ihnen erwähnten Betrag auf Ihrem Konto eingetroffen», antwortet sie ihm auf die für ihn zurzeit brennendste Frage. Also doch kein Traum.
Erleichterung macht sich in seinem Gesicht breit – aber nur für kurze Dauer. Denn sogleich avanciert eine andere Frage zur brennendsten Frage: «Können Sie mir auch sagen, von wem diese Zahlung kam?»
«Einen Moment bitte», lächelt sie ihn freundlich an und entfernt sich in Richtung einer Trennwand. Ob er wohl eine falsche Frage gestellt hatte, wundert er sich?
Nein, denn schon nach wenigen Sekunden taucht sie wieder auf und hält ein Blatt Papier in ihren Hände, welches sie soeben wohl bedrucken liess. «Die Überweisung stammt von einer News Trade GmbH in Zug», zwitschert ihm die Lernende mit ihrem weiterhin freundlichen und doch künstlichen Lächeln vor, was auf dem Blatt steht, welches sie ihm nun übergibt.
«Aha. Vielen Dank.» Mehr bleibt ihm nicht zu sagen, faltet das Blatt zweimal und steckt es in die Brusttasche seines Hemdes.
Nachdenklich schlägt er den Weg zu seinem Büro ein. Er kennt diese Firma nicht, vermutet aber wegen deren Standort Zug, dass es sich um eine Briefkastenfirma handelt. Da scheint jemand wirklich seine Identität verbergen zu wollen.
Im Büro angekommen blättert Hürlimann sofort in seiner Adresskartei. Irgendwo da hatte er doch noch die Telefonnummer eines alten Weggefährten aus Zug, vielleicht konnte dieser ihm weiterhelfen.
Das Glück scheint ihm an diesem Morgen gut gesinnt zu sein, denn nun hält er tatsächlich die fragliche Karteikarte in der Hand. Ernüchterung macht sich allerdings breit als er feststellt, dass die Telefonnummer nur neunstellig und damit veraltet ist.
Doch er weiss auch, dass bei der Neunummerierung nur die vorderen Nummern geändert haben. Mit Blick zur Wand, wo seine Telefonbuch-Bände stehen, erhebt er sich und entnimmt daraus Band 16 mit dem Kanton Zug.
Wieder hat er Glück, denn seine Telefonbücher sind zwar alle veraltet. Aber immerhin stammen sie von der Zeit nach der Neunummerierung, sodass er sich den vorderen Teil anhand der aktuellen Nummern ableiten kann.
So wählt er die selbst zusammengeschusterte Nummer, greift zur Kaffeetasse, trinkt daraus einen Schluck des inzwischen erkalteten Kaffees und wartet, bis am anderen Ende sich der Klingelton in eine sprechende Stimme verwandelt.
«Peter Meier», hört er nach dem fünften Klingelton. Er muss richtig sein, denkt sich der Anrufende, denn seit je her meldet sich Meier auch mit Vorname – damit man ihn nicht mit einem anderen Meier verwechsle, erklärte er sich dazu vor Jahren einmal.
«Hürlimann hier», gibt er sich zu erkennen.
«Hans Hürlimann?», fragt die Gegenstimme nach zwei Sekunden zurück.
Meier hat ihn also trotz jahrelanger Funkstille sofort wieder erkannt, was Hürlimann natürlich freut, nicht zuletzt auch weil so ein langes Erklären und ein Wieder-in-Erinnerung-rufen entfällt. Sie sind beide aus dem gleichen Holz geschnitzt, ausser dass Meier rund zehn Jahre älter und – wie Hürlimann im Laufe des Gesprächs erfährt – inzwischen mehr oder weniger im Ruhestand ist.
Trotzdem spricht ihn Hürlimann auf die News Trade GmbH an.
«Hast Du von denen etwa einen Auftrag erhalten?», will Meier wissen.
«Eine Anzahlung. Ob sie auch Auftraggeberin ist und wer sie ist, versuche ich eben gerade herauszufinden».
Meier lacht laut los, was Hürlimann zwar nicht versteht, doch immerhin scheint sein alter Kollege etwas über diese Firma zu wissen, das ihn zum Lachen bringt.
Nachdem sich sein alter Weggefährte wieder beruhigt hat, erklärt er Hürlimann: «Die News Trade GmbH ist nur eine Briefkastenfirma. Sie steht im Dienste einiger Verlage, welche nicht selber auf der Oberfläche erscheinen wollen und darum eine Mittelsperson oder –firma suchen. Deine Anzahlung stammt also tatsächlich von irgendeinem Verlag…»
«Aha», ist das Einzige, das Hürlimann in dem Moment einfällt. Nachdem er sich diese Antwort verinnerlicht hat, stellt er fest, dass er damit noch nicht zufrieden ist: «Kann ich denn irgendwie herausfinden, von wessen Verlag?»
«Du kannst dort gerne nachfragen, aber – sofern Du überhaupt jemanden erreichst – wird man Dir keine Auskunft geben.»
Hürlimann gibt nun doch auf. Mehr über seine Auftraggeberin zu erfahren ist schliesslich auch nicht sein Auftrag. Darum verabschiedet er sich von Meier, allerdings nicht bevor die beiden noch einen Termin fürs gemeinsame Angeln im kommenden Monat vereinbart haben.
Teil 5: «Der fingierte Vorfall».
Über diesen Beitrag
Währenddem in der Augenreiberei normalerweise Tatsachen dominieren, ist «Nebel über Seenried» für einmal eine erfundene Geschichte – ohne Anspruch auf einen literarischen Höhenflug, dafür aber mit einem kräftigen Augenzwinkern. Die Geschichte stützt sich auf die hier via Kommentarfunktion mitgeteilten Ideen sowie auf gewisse wahre Begebenheiten ab. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion sind teilweise fliessend. Alle Personen sowie die Ortschaft «Seenried» sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen oder mit «Seenried» können nicht ausgeschlossen werden… 😉 Einen Überblick über die verschiedenen Personen und Organisationen liefert diese Seite. |